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Lexikon der Mathematik: Zahlentheorie

Der Gegenstand der Zahlentheorie ist es, Eigenschaften der natürlichen Zahlen 1,2,3, … und deren Verknüpfungen (vor allem Addition, Multiplikation und Potenzbildung) aufzuspüren, zu beweisen, oder zu widerlegen. Gemeinsam mit der Geometrie bildet die Zahlentheorie den ältesten Zweig der Mathematik. Seit dem 18. Jahrhundert ist der Wissensstand so stark angewachsen, daß das gesamte Gebiet der Zahlentheorie für einen einzelnen Wissenschaftler kaum mehr überblickbar ist. Ausgehend von der historischen Entwicklung sollen hier einige wesentliche Motive, Teildisziplinen und Anwendungen beleuchtet werden.

Die ersten Motive, sich überhaupt mit Zahlen zu beschäftigen, sind wirtschaftlicher Natur: Im Handel und bei Erbschaftsangelegenheiten ist es wichtig, Güter sinnvoll und gerecht zu bewerten – und das ist ohne eine gewisse Vorstellung von Zahlen und Mengenverhältnissen kaum durchführbar. Die Entwicklung des Zahlbegriffs ist eng mit Zahldarstellungen verbunden, und diese wiederum mit Verfahren zur Durchführung der elementaren Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Die griechischen Gelehrten der Antike unterschieden allerdings bereits zwischen Logistik, der Lehre vom Rechnen, und Arithmetik, die theoretische Fragen behandelt, also Zahlentheorie [10]. Aus heutiger Sicht lassen sich diese beiden Disziplinen nicht klar voneinander trennen, da beim „Rechnen“, insbesondere, wenn man dies mit einem Computer macht, zahlentheoretische Resultate und Überlegungen eine wesentliche Rolle spielen.

Theoretische Fragen, mit denen sich griechische Gelehrte beschäftigten, betrafen z. B. das Gerade und Ungerade oder die Teilbarkeitslehre, die eng mit geometrischen Konstruktionen und mit Proportionen verbunden war. Zusammen mit der Euklidischen Geometrie entwickelte sich auch das Bedürfnis, etwa Zahlen a, b, c mit der Eigenschaft a2 + b2 = c2 (pythagoräisches Zahlentripel) aufzufinden, oder natürliche Zahlen im Hinblick auf ihre Teilbarkeit zu untersuchen. So beschäftigte man sich etwa mit vollkommenen Zahlen oder mit befreundeten Zahlen. Besonders interessant sind diejenigen Zahlen, die nicht mehr weiter teilbar sind. Heute nennt man eine natürliche Zahl ≥ 2, die nur durch 1 und sich selbst teilbar ist, eine Primzahl; in manchen historischen Quellen wird auch die 1 als Primzahl betrachtet. In den Elementen des Euklid findet man einige bemerkenswerte Sätze über Primzahlen, die dort bereits sehr klar bewiesen werden, so z. B.:

Es gibt unendlich viele Primzahlen.

Ein weiteres wichtiges Resultat ist die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung, deren Beweis im wesentlichen ebenfalls auf Euklid zurückgeht:

Jede natürliche Zahl läßt sich als Produkt von nicht notwendigerweise verschiedenen Primzahlen darstellen, und die Faktoren dieses Produkts sind bis auf ihre Reihenfolge eindeutig bestimmt.

Die in der griechischen Mathematik der Antike gewonnene begriffliche Klarheit führte auch zu sehr merkwürdigen negativen Resultaten. Man konnte Sätze formulieren und beweisen, die die Unmöglichkeit gewisser Konstruktionen zum Inhalt hatten. Beispielsweise bewies der Pythagoräer Hippasos von Metapont im fünften Jahrhundert v.Chr. folgenden Satz über eine Proportion im Pentagramm:

Das Längenverhältnis zwischen einer Diagonale und einer Seite im regelmäßigen Fünfeck läßt sich nicht als Verhältnis zweier natürlicher Zahlen darstellen.

Das gemeinte Längenverhältnis (der Goldene Schnitt) hat die Größe \(\phi =\frac{1}{2}(1+\sqrt{5})\), und Hippasos bewies, in moderner Sprache ausgedrückt, daß φ eine irrationale Zahl ist. Dies begründete eine Tradition negativer Resultate in der Zahlentheorie, die sehr interessante Früchte getragen hat, wie etwa die Unmöglichkeit der exakten Quadratur des Kreises mit Zirkel und Lineal. Um dies zu verstehen, beobachte man zunächst, daß die Quadratur des Kreises darauf hinausläuft, die durch die Kreiszahl π (das Verhältnis der Fläche eines Kreises mit Radius r zur Fläche eines Quadrats mit Seitenlänge r) gegebene Proportion zu konstruieren. Einen Hinweis auf Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer derartigen Konstruktion könnte man gewinnen, wenn man irgendeine Form hätte, in der sich jede mögliche Konstruktion darstellen ließe. Eine solche Form gibt es in der Tat: der goldene Schnitt φ, der mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist, ist offenbar eine Nullstelle des Polynoms \begin{eqnarray}{X}^{2}-X-1.\end{eqnarray}

Es stellt sich heraus, daß jede mit Zirkel und Lineal konstruierbare Proportion als Nullstelle eines Polynoms \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}{a}_{n}{X}^{n}+{a}_{n-1}{X}^{n-1}+\cdots +{a}_{1}X+{a}_{0} & (1)\end{array}\end{eqnarray}

mit ganzen Koeffizienten a0, …, an auftritt (mit Hilfe der algebraischen Theorie der Körpererweiterungen ist eine genauere Charakterisierung möglich). Lindemann bewies jedoch 1882:

Die Zahl π ist nicht Wurzel einer algebraischen Gleichung irgendwelchen Grades mit rationalen Coeffizienten.

Diese Formulierung stammt aus der Originalarbeit und bedeutet, daß es zu keinem Grad n eine Auswahl von rationalen Koeffizienten q0, …, qn derart gibt, daß π die Gleichung \begin{eqnarray}{q}_{n}{\pi}^{n}+{q}_{n-1}{\pi}^{n-1}+\cdots +{q}_{1}\pi +{q}_{0}=0\end{eqnarray}

erfüllt. Multipliziert man hier mit dem Hauptnenner, so erkennt man, daß es kein Polynom der Form (1) gibt, das π als Nullstelle besitzt. In heutiger Sprechweise heißt das: π ist transzendent, und deshalb gibt es keine Konstruktion von π mit Zirkel und Lineal. Interessant ist hierbei, daß die Transzendenz von π und also die Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises letztlich eine subtile Eigenschaft der natürlichen Zahlen ist – und damit in das Gebiet der Zahlentheorie fällt. Zur Ergänzung sei noch bemerkt, daß Leibniz eine sog. arithmetische Quadratur des Kreises gelang; er fand die Formel \begin{eqnarray}\frac{\pi}{4}=1-\frac{1}{3}+\frac{1}{5}-\frac{1}{7}+\frac{1}{9}-\cdots \end{eqnarray}

(Leibniz-Reihe für π).

Algebraische Ausdrücke sind Vorschriften, gemäß deren man aus gegebenen Zahlen durch Addition, Subtraktion und Multiplikation eine oder mehrere Zahlen errechnen kann, z. B. ein Polynom der Form (1). Mit Ansätzen einer Symbolschreibweise konnte Diophantos von Alexandria ca. 250 n.Chr. bereits Gleichungen mit algebraischen Ausdrücken bis zur sechsten Potenz und in mehreren Unbekannten behandeln. Ihm zu Ehren werden Gleichungen zwischen algebraischen Ausdrücken heute diophantische Gleichungen genannt. Diophantos interessierte sich besonders für rationale Lösungen, also für Zahlen, die sich als Bruch von ganzen Zahlen darstellen lassen, und die eine (oder mehrere) diophantische Gleichungen richtig machen. Die Grundideen der meisten heute benutzten Methoden, rationale Lösungen diophantischer Gleichungen zu ermitteln, lassen sich historisch bis Diophantos zurückverfolgen. Hierbei ist es besonders interessant, alle rationalen Lösungen zu bestimmen (vgl. etwa die Bachetsche oder die Pellsche Gleichung).

Diophantos lehrte, wie Euklid, an der antiken Universität von Alexandrien, wo er seine Schrift „Arithmetika“ verfaßte, die für die Zahlentheorie überragende Bedeutung erlangen sollte. Nach heutigem Forschungsstand fiel die Mathematikerschule von Alexandrien der Heidenverfolgung, die einsetzte, nachdem das Christentum 391 n.Chr. Staatsreligion des Römischen Reichs geworden war, zum Opfer [8]. Ab dem 7. bis ins 15. Jahrhundert wurde die mathematische Tradition in der Arabischen Mathematik fortgeführt und, insbesondere auch in Bezug auf Algebra und Zahlentheorie, weiterentwickelt, z. B. die Regel von Thabit zum Auffinden befreundeter Zahlen [7]. Der nächste Aufschwung der Zahlentheorie begann in Europa im 17. Jahrhundert, als Fermat eine von Bachet herausgegebene lateinische Übersetzung von Diophantos’ „Arithmetika“ studierte und mit seinen berühmten Anmerkungen versah.

Leonhard Euler entdeckte die Zahlentheorie als mathematisch interessantes Forschungsgebiet im Briefwechsel mit Christian Goldbach [11]. Dieser Vorgang beleuchtet schlaglichtartig die Motive eines exzellenten Mathematikers zur Erforschung zahlentheoretischer Fragen und soll deshalb hier kurz skizziert werden. Alles begann mit einem post scriptum in einem Brief von Goldbach an Euler, datiert vom 1. Dezember 1729:

Notane Tibi est Fermatii observatio omnes numeros hujus formulae \({2}^{{2}^{x-1}}+1\), nempe 3, 5, 17, etc. esse primus, quam tamen ipse fatebatur se demonstrare non posse, et post eum nemo, quod sciam, demonstravit.

(„Kennst Du nicht Fermats Beobachtung, alle Zahlen der Form \({2}^{{2}^{x-1}}+1\), etwa 3, 5, 17, usw., seien prim, von der er selbst zugab, sie nicht beweisen zu können, und die niemand, soweit ich weiß, bewiesen hat.“) Die aus heutiger Sicht etwas merkwürdige Schreibweisemit x − 1 im höchsten Exponenten ist so zu erklären, daß man für x der Reihe nach die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, … einsetzen möge, wodurch man die Primzahlen 3, 5, 17, 257, … erhält. Euler antwortete auf Goldbach’s post scriptum zunächst etwas kühl:

Nihil prorsus invenire potui, quod ad Fermatianam observationem spectaret.

(„Nichts nach vorne Gerichtetes habe ich finden können, was sich auf die Fermatsche Beobachtung beziehen würde.“) Goldbach erwähnte die Fermatsche Beobachtung erneut in seinem nächsten Brief, und Euler begann tatsächlich, Fermat zu lesen. Im Juni 1730 schreibt er:

Incidi nuper, opera Fermatii legens, in aliud quoddam non inelegans theorema: Numerum quemcunque esse summam quatuor quadratorum, seu semper inveniri posse quatuor numeros quadratos, quorum summa aequalis sit numero dato, ut 7 = 1+1+1+4. Sed tria quadrata nunquam invenientur, quorum summa sit 7.

Euler fand also die Behauptung Fermats, jede (natürliche) Zahl ließe sich als Summe von vier Quadraten darstellen, nicht aber als Summe dreier Quadrate, besonders interessant (non inelegans). Von nun an kommt in der sehr umfangreichen Korrespondenz zwischen Euler und Goldbach immer wieder Zahlentheoretisches zur Sprache; 1742 entstehen hierbei die sog. Goldbach-Probleme, die bis heute noch nicht vollständig gelöst sind. Übrigens zeigte Euler 1732, daß die von Goldbach erwähnte Formel bereits für x = 6 eine zusammengesetzte Zahl ergibt (Fermat-Zahl). Die Bemerkungen zur Darstellbarkeit natürlicher Zahlen als Summe von vier bzw. drei Quadraten motivierten den Vier-Quadrate-Satz von Lagrange (Lagrange, Vier-Quadrate-Satz von), dessen Beweis Euler später wesentlich vereinfachte, sowie den Drei-Quadrate-Satz von Gauß (Gauß, DreiQuadrate-Satz von). Eulers Beiträge zur Zahlentheorie sind enorm, sowohl die Tiefe der Resultate als auch die Breite der behandelten Themen betreffend. Beispielsweise gelang es ihm in der klassischen Teilbarkeitslehre, alle geraden vollkommenen Zahlen zu charakterisieren. Bei den diophantischen Gleichungen löste er den Fall p = 3 der Fermatschen Vermutung. Kombinatorische Probleme behandelte er mit der Technik der erzeugenden Funktion, womit die analytische Zahlentheorie begründet war. Den Satz von Euklid über die Unendlichkeit der Menge aller Primzahlen verschärfte er, indem er für die Summe der Kehrwerte der Primzahlen folgende Formel angab: \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}\displaystyle \sum _{p\,\text{Primzahl}}\frac{1}{p}=\mathrm{log}\,\mathrm{log}\infty. & (2)\end{array}\end{eqnarray}

Tatsächlich hatte Euler nur gezeigt, daß die Summe der Kehrwerte unendlich groß wird; trotzdem ist die rechte Seite interessant: Euler gewann sie aus seiner Gleichung \begin{eqnarray}\begin{array}{cc}\displaystyle \sum _{n=1}^{\infty}\frac{1}{{n}^{s}}=\displaystyle \prod _{p\,\text{Primzahl}}\frac{1}{1-{p}^{-s}}, & (3)\end{array}\end{eqnarray}

deren beide Seiten für alle komplexen Zahlen s mit Realteil > 1 konvergieren, indem er den Grenzübergang s → 1 untersuchte. Die Gleichung (3) wurde später Euler-Identität genannt und bildet die Grundlage für die Zusammenhänge zwischen der Verteilung der Primzahlen und der Riemannschen ζ -Funktion. Eulers mathematische Intuition zeigte sich auch in seiner Verwendung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes, das erst von Gauß vollständig bewiesen wurde, und in seinen Beiträgen zur Theorie elliptischer Kurven.

Inspiriert von Euler, wenngleich darüber hinausgehend, indem manches darin bewiesen war, was Euler empirisch entdeckt hatte, war Lagranges Werk über binäre qudratische Formen „Recherches d’arithmétiques“. In Anlehnung an dieses Buch nannte Gauß sein erstes Buch zur Zahlentheorie „Disquisitiones arithmeticae“. Nach Gauß, für den die Zahlentheorie die Königin der mathematischen Wissenschaften darstellte, wird aufgrund des zunehmenden Methodenarsenals allmählich die Unterscheidung verschiedener Zweige der Zahlentheorie nach den angewandten Methoden sinnvoll, obwohl die Unterscheidung nicht immer eindeutig ist.

Die enge Verbindung zwischen algebraischen Ausdrücken auf der einen Seite und Eigenschaften natürlicher Zahlen auf der anderen Seite fällt nach heutiger Terminologie in den Bereich der algebraischen Zahlentheorie. Dabei stellte sich heraus, daß zahlentheoretische Probleme eine starke Motivation zur Entwicklung algebraischer Begriffe und Methoden bilden. So entwickelten sich viele Grundbegriffe der heutigen Algebra mit „der Entdeckung der arithmetischen Gesetze der höheren Zahlkörper unter den Händen von Gauß, Dirichlet, Kummer, Kronecker, Dedekind und Hilbert“ [4]. Dahinter steht das Streben „nach einer umfassenderen, konzeptionellen Klarheit, die hinter der Vielfalt der zahlentheoretischen Erscheinungen stets den Vater des Gedankens sucht“ [6]. Aus der Tatsache, daß sich gewisse Eigenschaften algebraischer Ausdrücke am besten in geometrischer Sprache ausdrücken lassen, ergibt sich über die diophantischen Gleichungen auch eine Verbindung zur Geometrie, wofür man heute den Ausdruck arithmetische Geometrie benutzt. Ein aktueller Höhepunkt einer derartigen Verbindung verschiedener mathematischer Disziplinen ist der Beweis der Fermatschen Vermutung (Wiles 1995):

Ist n eine beliebige natürliche Zahl ≥ 3, so gibt es kein Tripel (x, y, z) aus natürlichen Zahlen, das die Gleichung xn + yn = zn erfüllt.

Die Anwendung funktionentheoretischer Methoden in der Zahlentheorie führte zur analytischen Zahlentheorie. Diese war zunächst von Euler durch seinen virtuosen Umgang mit Potenzreihen initiiert worden, und erhielt durch Riemanns 1859 erschienene achtseitige Arbeit „Ueber die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Grösse“ wesentliche neue Impulse. Diese Arbeit ist die einzige Publikation zur Zahlentheorie von Riemann; sie ist sehr knapp aufgeschrieben, besteht aus zahlreichen Aussagen und meist recht vagen Hinweisen auf Beweise, enthält die Riemannsche Vermutung, und ist insgesamt nur sehr schwer verständlich [3]. Dies erklärt, warum Riemanns Ideen erst mehr als 30 Jahre später wieder aufgegriffen wurden. Dennoch übte dieser Aufsatz einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Zahlentheorie aus; die Riemannschen Ideen wurden z. B. von Landau, Hardy, Siegel, Polya, Selberg, Artin, Hecke und vielen anderen aufgegriffen, sorgfältig untersucht, und einem tieferen Verständnis zugeführt – allerdings ist es noch niemandem gelungen, die Riemannsche Vermutung zu beweisen oder zu widerlegen. Ein wichtiges Resultat in diesem Umkreis ist der 1896 von Hadamard und de la Vallée Poussin (unabhängig voneinander, und auf verschiedenen Wegen) unter Benutzung der Riemannschen Ideen bewiesene Primzahlsatz:

Bezeichnet π(x) die Anzahl der Primzahlen unterhalb x, so gilt die asymptotische Gleichheit\begin{eqnarray}\begin{array}{cc}\pi (x)\sim \frac{x}{\mathrm{log}x} & \,{f}{\ddot{u}}{r}\,\text{}x\to \infty \end{array}.\end{eqnarray}

Mit Hilfe dieses Satzes läßt sich übrigens beweisen, daß Euler in seiner Formel (2) mit dem Ausdruck „log log ∞“ die richtige Divergenzordnung der Summe erraten hatte.

Aus heutiger Sicht ist der Primzalsatz eher als Anfangs-, denn als Endpunkt der mathematischen Ergebnisse über Fragen der Primzahlverteilung zu sehen. Will man etwa weitergehende Fragen über Primzahlzwillinge oder über die Goldbach-Probleme untersuchen, so sind wesentlich subtilere Methoden erforderlich [5]. Dabei kommen nicht nur funktionentheoretische Methoden, sondern auch solche aus Wahrscheinlichkeitstheorie und asymptotischer Analysis zum Einsatz [9]. Auch ein Beweis der Riemannschen Vermutung (mit welchen Methoden auch immer) würde einen tieferen Einblick in die Regelmäßigkeit der Verteilung der Primzahlen geben (Mertenssche Vermutung). Die Verteilung von Primzahlen ist übrigens nicht nur ein vom alltäglichen Leben losgelöstes Problem: Manche (häufig benutzte) kryptographische Verfahren stehen damit in dem Zusammenhang, daß man mehr über deren Zuverlässigkeit wüßte, wenn die Riemannsche Vermutung (oder eine Verallgemeinerung davon) bewiesen wäre.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das fruchtbare Zusammenspiel zwischen dem im 20. Jahrhundert aufkommenden Interesse an Algorithmen und Computertechnik einerseits und der Zahlentheorie andererseits. Aus dem Interesse an Algorithmen entstanden neue zahlentheoretische Fragen, z. B. das Collatz-Problem, das eine Fülle neuer Fragen aufwarf, von denen nur wenige heute beantwortet sind. Die Computertechnik machte es möglich, umfangreiche Berechnungen anzustellen, woraus das Bedürfnis entstand, diese auf solide mathematische Grundlagen zu stellen. So kamen z. B. bei Monte-Carlo-Simulationen (Monte-Carlo-Methode) sehr bald schon zahlentheoretische Methoden zum Tragen (z. B. Lehmers Kongruenzmethode zum Erzeugen von Pseudozufallszahlen). Auch diese Entwicklung ist noch keineswegs abgeschlossen: Die sog. Quasi-Monte-Carlo-Methoden, zu deren Anwendungen technische Simulationen ebenso wie Risikoanalysen in der Finanzmathematik gehören, erfordern tiefliegende zahlentheoretische Überlegungen wie etwa die algebraischgeometrische Untersuchung von Funktionenkörpern. Derartige Methoden werden auch bei der Konstruktion fehlerkorrigierender Codes zur sicheren Übertragung von Information eingesetzt. Bei kryptographischen Verfahren zum Verbergen von Information vor unberechtigtem Zugriff spielen nicht nur Fragen über die Primzahlverteilung eine Rolle, sondern es kommen auch zahlentheoretische Verfahren zum Einsatz. Diese betreffen z. B. Primzahltests, Faktorisieren natürlicher Zahlen, elliptische Kurven (Verschlüsselung mittels elliptischer Kurven), oder auch Klassengruppen algebraischer Zahlkörper [1]. Diese Beispiele zeigen eindringlich, daß die vielfach übliche Unterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“ Mathematik im Hinblick auf die Zahlentheorie keinen Sinn macht.

Literatur

[1] Buchmann, Johannes: Einführung in die Kryptographie. Springer, Berlin, 1999.

[2] Bundschuh, Peter: Einführung in die Zahlentheorie. Springer, Berlin, 4. Auflage, 1998.

[3] Edwards, H. M.: Riemann’s Zeta Function. Academic Press, New York, 1974.

[4] Leutbecher, Armin: Zahlentheorie. Eine Einführung in die Algebra. Springer, Berlin, 1996.

[5] Halberstam, H., and Richert, H.-E.: Sieve methods. Academic Press, London, 1974.

[6] Neukirch, Jürgen: Algebraische Zahlentheorie. Springer, Berlin, 1992.

[7] Scheid, Harald: Zahlentheorie. BI-Wissenschafts-Verlag, Mannheim, 1994.

[8] Scriba, C.J. und Schreiber, P.: 5000 Jahre Geometrie. Springer, Berlin, 2001.

[9] Tenenbaum, Gérald: Introduction to analytic and probabilistic number theory. Cambridge University Press, 1995.

[10] Tropfke, Johannes: Geschichte der Elementarmathematik. de Gruyter, Berlin, 1980.

[11] Weil, André: Number Theory. An approach through history. Birkhäuser, Boston, 1984.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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