Lexikon der Neurowissenschaft: Abruf
Abruf m, E retrieval, Vorgang des Sich-Erinnerns, Reaktivierung von gespeicherten Informationen aus dem Langzeitgedächtnis (Ekphorierung) im Kontext der momentanen Situation. Es können zwei Arten unterschieden werden: 1) der assoziative Abruf, ein automatischer Erinnerungsprozeß nach externen Hinweisreizen, an dem vor allem der Hippocampus und andere Strukturen im mittleren Schläfenlappen beteiligt sind, 2) der zielgerichtete oder strategische Abruf, der eine langsame, vorsätzliche Suche nach einer Erinnerung voraussetzt, woran insbesondere der (rechte) präfrontale Cortex beteiligt ist. Beim freien Abruf werden Erinnerungen ohne Hinweisreize aktiviert, was älteren Menschen bei neu gelerntem Material zunehmend schwerer fällt. Gedächtnis.
Mündlicher und schriftlicher Abruf: Eine einzigartige Form von Abruf-Störung wurde 1994 bei einem englischen Jungen namens Neil beschrieben, der unter einem Tumor in der pinealen Region des Ventriculus tertius litt, was zu Agnosie, Alexie und Amnesie führte. Zwar war die Behandlung erfolgreich, doch zeigte die Kernspintomographie Anomalien im linken Hippocampus und in Teilen des Diencephalons sowie im Fornix. Neil konnte sich nicht mehr an Erlebnisse nach seiner Operation erinnern, war aber in der Schule erstaunlich gut. Es stellte sich heraus, daß er neue Informationen zwar nicht mündlich äußern, aber sehr wohl aufschreiben konnte. Allerdings war er nicht in der Lage, seine eigenen Notate zu lesen. Offenbar vollzieht sich der Abruf von geschriebenen und gesprochenen Informationen auf unterschiedliche Weise und über unterschiedliche neuronale Substrate. Dafür spricht auch, daß Schlaganfälle Sprachstörungen hervorrufen können, bei der die Bildung von Verben beeinträchtigt sind: Manche Patienten haben Schwierigkeiten, die Verben auszusprechen, nicht aber sie aufzuschreiben, bei anderen ist es gerade umgekehrt.
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