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Lexikon der Neurowissenschaft: Anthropogenese

Anthropogenese w[von griech. anthropos = Mensch, genesis = Entstehung], Humanevolution, E anthropogenesis, der stammesgeschichtliche Vorgang der Entstehung, Diversifikation und teilweisen Auslöschung der menschenartigen Organismen (Gattungen Australopithecus und Homo). Im späten Miozän (vor ca. 5-6·106 Jahren) spalteten sich die Stammlinien der menschenartigen Organismen und der heutigen Menschenaffen auf. Die Australopithecinen durchliefen zunächst eine Phase der Diversifikation (5-7 Arten), starben jedoch im Pleistozän (vor ca. 1,5·106 Jahren) aus. Aus einer Australopithecinenart gingen vor ca. 2,3·106 Jahren die ersten Vertreter der Gattung Homo (Homo habilis) hervor. Ein mehr oder weniger kontinuierlicher evolutiver Prozeß führte vom Homo habilis über den Homo erectus zu den modernen Menschen, die vor ca. 300000 Jahren auftraten und die koexistierten (Homo sapiens sapiens, und Homo sapiens neanderthalensis, der "Neandertaler"). Nach dem Verschwinden der Neandertaler vor ca. 40000 Jahren ist Homo sapiens sapiens der einzige Vertreter der Gattung. – Folgende Merkmale, die im Lauf der Anthropogenese erworben wurden, unterscheiden die Menschen von den Menschenaffen: aufrechter Gang und zahlreiche damit verbundene Modifikationen des Bewegungsapparates (z.B. der Verlust des opponierbaren Großzehs); Verlust des Haarkleids; stetige Zunahme der Körpergröße; Verlust der Prognathie (Zurückweichen des Ober- und Unterkiefers) und die damit einhergehende Entstehung einer das Gesicht überragenden Nase und eines Kinns (die typisch menschliche Merkmale sind); Wanderung des Kehlkopfs in eine (relativ zu den Menschenaffen) tiefe Position am Hals, was die Erzeugung sehr differenzierter Sprachlaute (Sprache) erst ermöglichte. – Die Körpergröße der Hominiden nahm stetig zu, die aufgerichteten erwachsenen Australopithecinen waren nur etwa 1,20 m groß. Die durchschnittliche Größe des Gehirns (gemessen als Volumen der Höhlung des Hirnschädels, das sogenannte Endocranialvolumen, siehe Abb. ) nahm im Laufe der Anthropogenese von Australopithecinen (450 cm3) über die verschiedenen Unterarten des Homo habilis (650 cm3) und des Homo erectus (1000 cm3) zum Homo sapiens ständig zu, wobei Homo sapiens neanderthalensis das durchschnittlich größte (1450 cm3) Gehirn besaß. Die heute lebende Unterart des Menschen (Homo sapiens sapiens) zeichnet sich durch eine extreme Variationsbreite des Hirnvolumens aus, durchschnittlich liegen die Volumina bei 1250 cm3 (Frauen) bzw. 1350 cm3 (Männer). Da der Encephalisationsquotient, der die Größe des Gehirns relativ zum Körpergewicht ausdrückt, ebenfalls anstieg (von 3,0 bei den Australopithecinen bis zu 7,2 bei Homo sapiens sap. und neanderthal.), ist nur ein geringer Teil dieser Größenzunahme durch die Zunahme der Körpergröße zu erklären. Es muß also ein beträchtlicher selektiver Druck auf die Entstehung eines großen Gehirns hingewirkt haben. Die Natur dieses Drucks, vor allem zu Beginn der Größenzunahme bei den Australopithecinen (deren Encephalisationsquotient nicht höher als der der Menschenaffen ist), ist heftig umstritten. Wir wissen, daß bei uns heute lebenden Menschen die untere, "kritische" Grenze der Hirngröße bei etwa 950 cm3 liegt, Träger kleinerer Gehirne haben schwere kognitive Defekte. Ein "kognitiver Selektionsdruck" – zumindest an unseren Maßstäben der Kognition gemessen – scheidet deshalb als Selektionsfaktor bei der anfänglichen Größenzunahme des Gehirns aus. Sozial- und Sprachkompetenz sind als mögliche Selektionsfaktoren ins Feld geführt worden, ebenso ein "Redundanzargument" (Träger etwas größerer Gehirne sind beim teilweisen Ausfall einiger Hirnteile weniger betroffen als Träger kleinerer Hirne). Die Hirne der savannenbewohnenden Australopithecinen könnten tatsächlich unter großem Hitzestreß gestanden haben, so daß eine gewisse neuronale Redundanz von Vorteil gewesen sein mag – sie läßt Aktivität auch in großer Hitze zu. Unumstritten ist, daß die Entwicklung des aufrechten Gangs und die damit verbundene Nutzung der Hände (bei den Australopithecinen) dem Auftreten eines großen Gehirns zeitlich voranging. Die Tendenz zur Größenzunahme des Gehirns, die die Anthropogenese durchzieht, ist seit dem Auftreten des Homo sapiens zum Stillstand gekommen. Möglicherweise ist es die Enge des weiblichen Geburtskanals, die einer weiteren Vergrößerung des kindlichen Kopfes entgegensteht.

H.W.

Lit.: Aiello, L., Dean, C.: An Introduction to Human Evolutionary Anatomy. Academic Press, London, 1990. Campbell, B.G.: Humankind Emerging. Harper Collins Publishers, New York, 1992.



Anthropogenese

Darstellung der Zunahme des Hirnschädelvolumens während der letzten 3 Millionen Jahre der Anthropogenese; mit Angabe der jeweils gefundenen Variationsbreite, die beim heutigen Menschen besonders groß ist.

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