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Lexikon der Neurowissenschaft: Biogenetische Grundregel

Biogenetische Grundregel [von griech. bios = Leben, genesis = Entwicklung], Biogenetisches Grundgesetz, Biogenetische Regel, E biogenetic principle, ein von E. Haeckel (1866), basierend auf K.E. von Baer und C.R. Darwin, postuliertes Naturgesetz, wonach die Entwicklung des Einzelwesens (Ontogenie) die kurze Wiederholung seiner Stammesgeschichte (Phylogenie) sei ( siehe Zusatzinfo ). Grundlage der Regel ist nach heutigem Verständnis, daß die Individualentwicklung auf alten Entwicklungsprogrammen aufbaut, so daß sie Reste von Differenzierungsschritten enthält, die bei stammesgeschichtlichen Vorfahren zum Aufbau von Endstrukturen benötigt wurden. Es werden in der Ontogenese meistens nur die Anlagen von Strukturen rekapituliert, in wenigen Ausnahmen auch ausdifferenzierte Einzelmerkmale stammesgeschichtlicher Vorfahren, keineswegs ganze Ahnenstadien. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist zu fordern, daß nur solche Strukturen beibehalten werden, die eine unverzichtbare Funktion für die Ontogenese haben. Beispielsweise dienen die Kiemenanlagen der Landwirbeltiere unter anderem als Leitstrukturen für die Ausbildung von Blutgefäßen und Hirnnerven, und die Kiementaschen liefern Material für Hormondrüsen. Andere rekapitulierte Strukturen sind wegen ihrer Induktorwirkung (Induktion) unverzichtbar; z.B. induziert die Chorda dorsalis die Ausbildung des Neuralrohrs der Wirbeltiere und wird später in aller Regel durch die Wirbelsäule ersetzt. Solche Anlagen ehemaliger Organe, die eine zusätzliche ontogenetische Funktion übernommen haben und deshalb beibehalten werden müssen, bezeichnet man als Interphäne (R. Riedl), die sich bei phylogenetischen Vorfahren daraus entwickelnden Endstrukturen als Metaphäne. – Die Biogenetische Grundregel basiert im wesentlichen auf morphologischen Studien an Tieren, sie wird darüber hinaus auf physiologische, ökologische und ethologische Tatbestände sowie molekulargenetische Befunde angewandt. Die Ausweitung der Biogenetischen Grundregel auf die Entwicklung von Verhalten oder der Psyche, wie es z.B. im "psychogenetischen Grundgesetz" von S. Hall (1904) geschah, wird heute kritisch beurteilt. Ein wichtiger Einwand ist, daß es weder im Tierreich noch beim Menschen empirisch gesicherte Hinweise auf psychische Interphäne gibt. In diesem Fall hätte man erwartet, daß eine pathologisch oder experimentell hervorgerufene Unterdrückung juveniler Verhaltensweisen zu bleibenden Schäden führt, so wie man es von morphologischen Interphänen kennt. Dies ließ sich bislang nicht nachweisen.

Biogenetische Grundregel

Das von E. Haeckel postulierte "Biogenetische Grundgesetz" erfuhr von Anfang an Zustimmung wie Ablehnung, wobei neben weltanschaulichen Gründen bis zum heutigen Tag vor allem methodenkritische Einwände geltend gemacht werden. Die bereits zu Haeckels Lebzeiten erhobenen Fälschungsvorwürfe gegen die von ihm als Beleg veröffentlichte Darstellung von Wirbeltierembryonen lassen sich teils aufrechterhalten, teils als didaktisch gebotene Idealisierung rechtfertigen. Trotz mancher berechtigter Einwände kann deswegen die Grundaussage Haeckels nicht als widerlegt gelten. Allerdings erfuhr das "Biogenetische Grundgesetz" im Laufe der Zeit begriffliche und methodische Präzisierungen, so daß es zu einer "Regel" herabgestuft wurde.

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