Lexikon der Neurowissenschaft: Frontallappensyndrom
Frontallappensyndroms [von latein. frons, Genitiv frontis = Stirn, Vorderseite], Frontalhirnsyndrom,Stirnhirnsyndrom,Efrontal lobe syndrome, nicht einheitliche geistige und neurologische Störungen bei einer Erkrankung oder Verletzung des Frontallappens (z.B. durch Tumor, Entzündung, Lobotomie). Es werden unterschieden: 1) eine Schädigung der frontalen Konvexität, charakterisiert durch Antriebsmangel (Abulie), der sich auf alle Lebensbereiche erstreckt, Bewegungsverarmung (Akinese), Echolalie, Echopraxie, Greifautomatismen, Abasie, Astasie sowie frontale Ataxie und Broca-Aphasie (falls die entsprechende Hemisphäre betroffen ist); 2) eine Schädigung des orbitalen Frontalhirns, charakterisiert durch Anosmie, Affektlabilität, Witzelsucht und gelegentliche Steigerung des Antriebs. Häufig sind auch Perseverationen, d.h. die Unfähigkeit, mit einer Tätigkeit aufzuhören, wenn sie nicht mehr angemessen ist (z.B. weil eine neue Aufgabe ansteht). Manchen Patienten ist bewußt, was sie anders machen sollten, sie können ihr Verhalten aber nicht diesem Wissen anpassen. Weitere häufige Merkmale des Frontallappensyndroms (bei Läsionen des ventromedialen Präfrontalcortex) sind Beeinträchtigungen beim Planen und Problemlösen, insbesondere bei Entscheidungen in komplexen Situationen; die Patienten sind unfähig, zukünftige Aktivitäten zu organisieren, verlieren ihren Beruf, ihre Originalität und Kreativität. Dies hängt u.a. damit zusammen, daß sekundäre Emotionen abgeschwächt werden oder fehlen, die für solche Entscheidungen in komplexen Situationen notwendig zu sein scheinen. Allgemein haben Patienten Schwierigkeiten, Informationen aus der Umwelt zur Kontrolle, Veränderung und Regelung ihres eigenen Verhaltens zu verwenden. Außerdem sind je nach Schädigungsort (bei dorsalen und lateralen Läsionen) Beeinträchtigungen von Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis die Folge (der Frontallappen spielt eine wichtige Rolle für das Arbeitsgedächtnis). Das Brodmann-Areal 46 scheint für die interne Repräsentation räumlicher Informationen von Bedeutung zu sein, der mediale Frontalcortex für die Speicherung von Objektinformationen. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Frontallappensyndrom gewidmet, weil es häufig mit einer drastischen Veränderung der Persönlichkeit einhergeht, obwohl Intelligenz, Sensorik und Motorik intakt sind. Solche Veränderungen lassen sich grob in zwei Typen unterscheiden: 1) Pseudodepression: Apathie, Emotionslosigkeit, Wortkargheit, Verlust an Initiative und sexuellem Interesse (bei dorsolateralen Läsionen). Auch im Tierversuch mit Affen führen Läsionen zu drastischen Einbußen des Sexualverhaltens. 2) Pseudopsychopathie: unreifes Verhalten, Mangel an Anstand und Zurückhaltung, Fäkalsprache, gesteigerte Sexualität und Enthemmung (bei orbitofrontalen Läsionen), motorische Unruhe, Asozialität sowie z.T. Inkontinenz.
R.V.
Lit.:Fuster, J.: The Prefrontal Cortex. New York 1989, 2. Aufl. Passingham, R.: The Frontal Lobes and Voluntary Action. Oxford, New York, Tokyo 1995.
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