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Lexikon der Neurowissenschaft: höhere Nerventätigkeit

höhere Nerventätigkeit w, E higher nervous activity, historisch bedeutsamer Begriff zur Analyse der Organismus-Umwelt-Beziehungen. I.P. Pawlow prägte ihn 1908 zur Bezeichnung der von ihm an Hunden untersuchten bedingtreflektorischen Mechanismen ( siehe Tab. ). Er ging davon aus, daß die von ihm untersuchten bedingten Reflexe in den am höchsten entwickelten Abschnitten des Zentralnervensystems, der Großhirnrinde, gebildet werden. Demgegenüber bezeichnete er die auf tieferen Ebenen des Zentralnervensystems ablaufenden Regulationen als niedere Nerventätigkeit. Auf der Grundlage der angeborenen unbedingten Reflexe bilden sich im Laufe der Ontogenese durch die bedingten Reflexe die zunehmend komplizierten Beziehungen des Organismus zur Umwelt (Lernen). Dabei folgte Pawlow nachstehenden Grundprinzipien, die er und seine Schüler im Laufe ihrer Untersuchungen ständig weiterentwickelten: 1) Pawlow verwandte den Begriff Reflex im erweiterten Sinne als Bezeichnung für Verhalten. Die höhere Nerventätigkeit umfaßte für ihn die Gesamtheit des Verhaltens des Organismus. 2) Pawlow vertrat eine materialistische Auffassung von der höheren Nerventätigkeit, lehnte daher die Annahme "psychischer" Vorgänge beim Hund ab und forderte, auch die höhere Nerventätigkeit des Menschen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Diese Position wurde von der KPdSU zu einer mechanistischen Auffassung verfälscht und so als wissenschaftliche Begründung der kommunistischen Ideologie mißbraucht; man versuchte, die Pawlowsche Lehre einer Dogmatisierung zu unterwerfen (Pawlow-Konferenz 1950). 3) Pawlow vertrat das Prinzip des Determinismus aller Lebensvorgänge. Seine langjährigen Untersuchungen und Beobachtungen, besonders am Menschen, veranlaßten ihn jedoch, dem Zufall, der Plastizität der höheren Nerventätigkeit und der Selbstorganisation eine entscheidende Rolle zuzusprechen. Diese Gedanken wurden von seinen Schülern und Nachfolgern systematisch weiterentwickelt (P.K. Anochin, A.R. Lurija und N.A. Bernstein). 4) Pawlow ging von der kontinuierlichen Evolution der höheren Nerventätigkeit vom Tierreich zum Menschen aus und forderte, auch die "psychischen" Phänomene des Menschen als Funktionen des Gehirns naturwissenschaftlich zu analysieren. Damit nahm er Schlußfolgerungen vorweg, die sich aus mit modernsten Methoden durchgeführten, neurowissenschaftlichen Untersuchungen ergeben (A.R. Damasio, V.B. Mountcastle, M.S. Gazzaniga u.a.). 5) Pawlow begann bereits sehr frühzeitig bei seinen Versuchshunden auf experimentellem Wege pathologische Zustände der höheren Nerventätigkeit zu erzeugen (experimentelle Neurosen; siehe Tab. ). Er erweiterte Anfang der 1930er Jahre diese Gedanken auf den Menschen und regte in seinen Kliniken Untersuchungen über die Pathologie der höheren Nerventätigkeit des Menschen an.

L.P.

Lit.: Pawlow, I.P.: Gesammelte Werke über die Physiologie und Pathologie der höheren Nerventätigkeit. Würzburg 1998.

höhere Nerventätigkeit

Typen der höheren Nerventätigkeit:
Aufgrund unterschiedlicher Reaktionen bei der bedingtreflektorischen Tätigkeit unterschied Pawlow bei seinen Versuchshunden vier Typen der höheren Nerventätigkeit, die weitgehende Ähnlichkeit mit den von Hippokrates für den Menschen aufgestellten vier Temperamenten besitzen. Grundlage für die Gliederung war die unterschiedliche Charakteristik der Nervenprozesse, d.h. ihre Stärke, ihre Ausgeglichenheit und ihre Beweglichkeit. Es ergibt sich dabei folgende Zuordnung:

Typ der höheren Nerventätigkeit Temperament (nach Hippokrates)
1) starker unausgeglichener Typ Choleriker
2) starker ausgeglichener beweglicher Typ Sanguiniker
3) starker ausgeglichener träger Typ Phlegmatiker
4) schwacher Typ Melancholiker

Tiere vom Typ 1) und 4) sind dabei gegenüber pathologischen Veränderungen der höheren Nerventätigkeit anfälliger als die vom Typ 2) und 3).
Die Typen der höheren Nerventätigkeit des Menschen unterscheiden sich nach Pawlow danach, ob das erste oder das zweite Signalsystem überwiegt bzw. ein Gleichgewicht zwischen ihnen besteht. Beim Überwiegen des ersten Signalsystems spricht er vom Künstlertyp, beim Überwiegen des zweiten Signalsystem vom Denkertyp und beim Gleichgewicht zwischen beiden Typen von einem mittleren Typ.

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