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Lexikon der Neurowissenschaft: Konstruktivismus

Konstruktivismus m, E constructivism, eine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie mit Wurzeln im Idealismus I. Kants, in der genetischen Entwicklungstheorie J. Piagets, in der Biokybernetik (W. McCulloch, W.R. Ashby und H. von Foerster) und der Theorie autopoietischer Systeme (H. Maturana und F. Varela). Sie wurde in Form des "radikalen Konstruktivismus" entscheidend durch E. von Glasersfeld bestimmt und stark durch neurobiologische und wahrnehmungspsychologische Forschungsergebnisse beeinflußt. – Ausgangspunkt für den Konstruktivismus ist die Annahme, daß die subjektive Erlebniswelt, "Wirklichkeit" (E actuality) genannt, das Konstrukt eines individuellen Gehirns ist, welches seinerseits Teil einer vernünftigerweise als existent angenommenen, aber nicht weiter erkennbaren Welt, "Realität" (E reality) genannt, ist. Es wird davon ausgegangen, daß dieses reale Gehirn mit seiner Umwelt in überlebensfördernder Weise interagiert, für das bewußt erlebende Ich besteht jedoch kein direkter Zugang zur Realität. Die in das Gehirn einlaufenden Signale aus der Umwelt sind teilweise unzusammenhängend und vieldeutig und werden auf zahlreichen Verarbeitungsstufen der sensorischen Systeme zusammengefügt, vereindeutigt und bedeutungshaft interpretiert, und zwar durch intensive Vermischung mit Gedächtnisinhalten. Entsprechend besteht zwischen "Wirklichkeit" und "Realität" kein Abbildungscharakter im Sinne eines erkenntnistheoretischen Realismus: Die Welt wird so wahrgenommen, wie sie dem Gehirn im Lichte vergangener und aktueller Erfahrung am meisten konsistent und kohärent erscheint und damit am besten ein weiteres Handeln ermöglicht. Erfolg oder Mißerfolg dieses Handelns wird wiederum nicht an seinen objektiven Konsequenzen, sondern in selbstreferentieller Weise an seinen "internen" Wirkungen festgemacht und im Gedächtnis festgehalten. Entsprechend ist das Ziel von Wahrnehmen und Handeln nicht das Erfassen objektiver Gegebenheiten der realen Welt, sondern das Aufrechterhalten des guten Funktionierens (der "Viabilität" im Sinne E. von Glasersfelds) der Verhaltenssteuerung. Diese erkenntnistheoretische Position führt in ihrer Selbstanwendung zum Verzicht der Wissenschaften auf Wahrheitsfindung. Alle Ergebnisse der Wissenschaften haben nur vorläufigen Charakter; sie können Konsistenz und Kohärenz maximieren, jedoch keine objektive Bestätigung erlangen. – Die Annahme der Konstruiertheit bzw. Konstruktivität unserer Wahrnehmung wird durch die Befunde der Sinnesphysiologie, der kognitiven Neurowissenschaft und der Wahrnehmungspsychologie bestätigt. Dies schließt auch die Annahme ein, daß das bewußte Ich (Bewußtsein), welches sich als Subjekt der Erlebniswelt und Lenker der Handlungen empfindet, ein Gehirnkonstrukt ist. Diese empirische Bestätigung muß aber im Sinne des Konstruktivismus als rein interne Steigerung von Kohärenz und Konsistenz angesehen werden: Die Gehirne und ihre perzeptiven, kognitiven, emotionalen und motorischen Prozesse, welche den genannten Wissenschaften zugänglich sind, gehören ihrerseits der Wirklichkeit an und sind keine Abbilder der Realität. Neurophilosophie.

G.R.

Lit.: Maturana, H.R.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig 1982. Foerster, H. von: Sicht und Einsicht. Braunschweig 1985. Glasersfeld, E. von: Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Braunschweig 1987. Schmidt, S.J. (Hrsg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus. Frankfurt 1987. Schmidt, S.J. (Hrsg.): Kognition und Gesellschaft, Frankfurt 1992. Roth, G.: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt 1998. Roth, G., Menzel, R.: Kognitive Funktionen, sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation. In: Dudel, J., Menzel, R., Schmidt, R.F. (Hrsg.): Neurowissenschaft. Vom Molekül zur Kognition. Heidelberg/Berlin 1996/2000.

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