Direkt zum Inhalt

Lexikon der Neurowissenschaft: Neglect

Neglect s [E, = Vernachlässigung], Neglekt,Neglectsyndrom, E neglect, eine – meist halbseitige (Hemineglect; Halbseitenneglect) – Vernachlässigung bzw. Nichtbeachtung des eigenen Körpers oder der Umgebung bezüglich einer oder mehrerer Sinnesmodalitäten (oder auch nur im Vorstellungsvermögen), obwohl die Sinnesorgane und primären corticalen Areale intakt sind. Beispielsweise stoßen die Patienten beim Gehen immer wieder gegen Hindernisse auf einer Seite, zeichnen Vorlagen nur zur Hälfte ab, rasieren sich nur halbseitig, essen lediglich fünfzig Prozent der Speisen auf ihrem Teller, lesen nur eine Hälfte von zusammengesetzten Substantiven (z.B. "Zeug" statt "Schlagzeug", Neglectdyslexie) oder heben nur einen Arm, wenn sie aufgefordert werden, beide zu heben. Die Vernachlässigung einer Raum- und Körperhälfte ist aber kein unveränderliches Faktum, sondern kann durch Hinweisreize (Cueing) teilweise aufgehoben werden. Außerdem können Informationen implizit verarbeitet werden und das Verhalten beeinflussen, obwohl sich der Patient dessen nicht bewußt ist. Der Neglect ist nicht selten mit einer homonymen Hemianopsie oder mit einer Anosognosie verbunden und wird häufig von einer begleitenden Aphasie überdeckt. Eine abgeschwächte Form des Neglects ist die (neurologische) Extinktion. – In 75 Prozent der Fälle bildet sich die akute Symptomatik des Neglects innerhalb von sechs Monaten zurück. Die Erholung erfolgt in zwei Schritten: Zunächst kommt es zu einer Allästhesie, d.h. zu Versuchen, auf Reize der vernachlässigten Seite zu reagieren, wobei die Patienten sich so verhalten, als kämen diese Reize von der intakten Seite. Dann gelingen auch Reaktionen auf Reize von der vernachlässigten Seite; wenn beide Seiten gleichzeitig stimuliert werden, wird die contralateral zur Läsion gelegene Seite aber noch immer ausgeblendet (Extinktion). – Ursache des Neglects ( siehe Zusatzinfo ) ist in der Regel eine Läsion im inferioren Scheitellappen der contralateralen Seite (besonders der nichtsprachdominanten, d.h. meist der rechten), insbesondere des Gyrus supramarginalis, z.B. nach einem Hirninfarkt. Zuweilen ist auch der präfrontale Cortex betroffen oder subcorticale Regionen (Putamen, Caudatum, Thalamus), was aber vielleicht bloß die Aktivität des Scheitellappens vermindert.

Lit.: Karnath, H.-O., Hartje, W.: Neglect. In: Markowitsch, H.J. (Hrsg.): Klinische Neuropsychologie. Göttingen u.a. 1997, S. 91-154. Kerkhoff, G, Schindler, I.: Fortschr. Neurol. Psychiatrie 65, 278-289 (1997). Rafal, R.D.: Current Opinion in Neurobiology 4, 231-236 (1994). Robertson, I.H., Marshall, J.C. (Hrsg.): Unilateral Neglect. London 1991.

R.V.

Neglect

Noch umstritten ist die Interpretation des Neglects. Der inzwischen kaum mehr vertretenen Integrationshypothese zufolge handelt es sich um eine Störung der Wahrnehmung und Empfindung, bei der die Integration verschiedener Reize beeinträchtigt ist, was zu ihrer Ignorierung führt. Nach der Transformationshypothese liegt dem Neglect eine Störung des neuronalen egozentrischen Raumkoordinatensystems zugrunde. Afferente Signale von verschiedenen Sinnesorganen werden in ein egozentrisches, körperbezogenes Referenzsystem transformiert, das für die Handlung und Orientierung im Raum notwendig ist; der Neglect beruht auf einer Beeinträchtigung dieser Transformation, was das gesamte egozentrische Referenzsystem zur Seite der Schädigung hin verschiebt. Dafür spricht, daß eine experimentelle Manipulation der Wahrnehmungen durch Hinweisreize oder eine veränderte Ausrichtung des Rumpfes (z.B. Drehung um 15 Grad) die Neglectsymptomatik teilweise kompensieren kann. Nach der Aufmerksamkeitshypothese ist der Neglect eine Aufmerksamkeitsstörung entweder infolge eines Übergewichts und Beharrens der automatischen Orientierung der Aufmerksamkeit in die Richtung der Schädigung oder einer beeinträchtigten Verlagerung fokaler Aufmerksamkeitsprozesse. Dafür spricht, daß Patienten mit einem halbseitigen Neglect z.B. vorwiegend auf die Seite der Schädigung blicken, selbst in der Dunkelheit, und eine Hälfte der Welt auch ignorieren, wenn sie sich diese vorstellen sollen: Bittet man sie, eine vertraute Szene aus einer bestimmten Perspektive zu beschreiben, ignorieren sie eine Hälfte; sollen sie dieselbe Szene aus einem um 180 Grad gedrehten Blickwinkel schildern, beschreiben sie die zuvor weggelassenen Teile, erwähnen aber die vorher genannten Bereiche nicht. Dies beweist, daß der Neglect weder auf einem Gedächtnisdefizit noch auf einem Gesichtsfelddefekt bzw. anderen sensorischen Beeinträchtigungen beruht. Positronenemissionstomographie- und ERP(ereigniskorrelierte Potentiale)-Untersuchungen haben gezeigt, daß der Schläfenlappen bei der selektiven Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle spielt. Außerdem gibt es Hinweise darauf, daß die Patienten die Reize aus der vernachlässigten Seite durchaus wahrnehmen und unbewußt verarbeiten können. Nach der Repräsentationshypothese ist der Neglect eine Störung der vorstellungsmäßigen, mentalen räumlichen Repräsentation der Umwelt. Der bewußten Wahrnehmung von Reizen geht eine mentale Repräsentation der sensorischen Eindrücke voraus. Fehlt diese, kann ein Neglect die Folge sein. Die genannte Einschränkung des Vorstellungsvermögens ist auch auf diese Weise erklärt worden.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Die Autoren
Redaktion

Dr. Hartwig Hanser, Waldkirch (Projektleitung)
Christine Scholtyssek (Assistenz)

Fachberater

Prof. Albert Ludolph, Ulm
Prof. Lothar Pickenhain, Leipzig
Prof. Heinrich Reichert, Basel
Prof. Manfred Spitzer, Ulm

Autoren

Aertsen, Prof., Ad, Freiburg
Aguzzi, Prof., Adriano, Zürich
Baier, Dr., Harmut, Ulm
Bartels, Prof., Mathias, Tübingen
Becker, Dr., Andreas, Marburg
Born, Prof., Jan, Lübeck
Brecht, Dr., Stephan, Kiel
Breer, Prof., Heinz, Stuttgart
Carenini, Dr., Stefano, Würzburg
Cruse, Prof., Holk, Bielefeld
Culmsee, Dr., Carsten, Marburg
Denzer, Dr., Alain, Waldenburg
Egert, Dr., Ulrich, Freiburg
Ehrenstein, Dr., Walter, Dortmund
Eurich, Dr., Christian , Bremen
Eysel, Prof., Ulf, Bochum
Fischbach, Prof., Karl-Friedrich, Freiburg
Frey, Dunja, Basel
Fuhr, Dr., Peter, Basel
Greenlee, Prof., Marc, Oldenburg
Hartmann, Beate, Basel
Heck, Dr., Detlef, Freiburg
Heller, Prof., Kurt, München
Henkel , Dr., Rolf , Bremen
Herdegen, Prof., Thomas, Kiel
Herrmann, Dr., Gudrun, Bern
Hilbig, Dr., Heidegard, Leipzig
Hirth, Dr., Frank, Basel
Huber, Dr., Gerhard, Zürich
Hund, Martin, Basel
Illing, Dr., Robert Benjamin, Freiburg
Käch, Dr., Stefanie, Basel
Kästler, Dr., Hans, Ulm
Kaiser, Dr., Reinhard, Freiburg
Kaluza, Jan, Stuttgart
Kapfhammer, Dr., Josef P., Freiburg
Kestler, Dr., Hans, Ulm
Kittmann, Dr., Rolf, Freiburg
Klix, Prof., Friedhart , Berlin
Klonk, Dr., Sabine, Stuttgart
Klumpp, Prof., Susanne, Marburg
Kössl, Dr., Manfred, München
Köster, Dr., Bernd, Freiburg
Kraetschmar, Dr., Gerhard, Ulm
Krieglstein, Prof., Josef, Marburg
Krieglstein, Prof., Kerstin, Homburg
Kuschinsky, Prof., Wolfgang, Heidelberg
Lahrtz, Stephanie, Hamburg
Landgraf, Dr., Uta, Stegen
Laux, Thorsten, Basel
Lindemann, Prof., Bernd, Homburg
Löffler, Dr., Sabine, Leipzig
Ludolph, Prof., Albert, Ulm
Malessa, Dr., Rolf, Weimar
Marksitzer, Dr., Rene, Luzern
Martin, Dr., Peter, Kehl-Kork
Martini, Prof., Rudolf, Würzburg
Medicus, Dr., Gerhard, Thaur
Mehraein, Dr., Susan, Freiburg
Meier, Dr., Kirstin, Freiburg
Mendelowitsch, Dr., Aminadav, Basel
Mergner, Prof., Thomas, Freiburg
Metzinger, Dr., Thomas, Frankfurt am Main
Mielke, Dr., Kirsten, Kiel
Misgeld, Prof., Ulrich, Heidelberg
Moll, Joachim, Basel
Münte, Prof., Thomas, Magdeburg
Neumann, Dr., Harald, Planegg-Martinsried
Nitsch, Prof., Cordula, Basel
Oehler, Prof., Jochen, Dresden
Otten, Prof., Uwe, Basel
Palm, Prof., Günther, Ulm
Pawelzik, Prof., Klaus, Bremen
Pickenhain, Prof., Lothar, Leipzig
Ravati, Alexander, Marburg
Reichel, Dr., Dirk, Lübeck
Reichert, Prof., Heinrich, Basel
Reinhard, Dr., Eva, Bern
Rieckmann, Dr., Peter, Würzburg
Riemann, Prof., Dieter, Freiburg
Ritter, Prof., Helge, Bielefeld
Roth, Prof., Gerhard , Bremen
Roth, Lukas W.A., Bern
Rotter, Dr., Stefan, Freiburg
Rubin, Dr., Beatrix, Basel
Ruth, Dr., Peter, Giessen
Schaller, Dr., Bernhard, Basel
Schedlowski, Prof., Manfred, Essen
Schneider, Dr., Werner X., München
Scholtyssek, Christine, Umkirch
Schwegler, Prof., Helmut , Bremen
Schwenker, Dr., Friedhelm, Ulm
Singer, Prof., Wolf, Frankfurt am Main
Spiegel, Dr., Roland, Zürich
Spitzer, Prof., Manfred, Ulm
Steck, Prof., Andreas, Basel
Steinlechner, Prof., Stephan, Hannover
Stephan, Dr., Achim, Rüsselsheim
Stoeckli, Dr., Esther, Basel
Stürzel, Frank, Freiburg
Swandulla, Prof., Dieter, Erlangen
Tolnay, Dr., Markus, Basel
Unsicker, Prof., Klaus, Heidelberg
Vaas, Rüdiger, Bietigheim-Bissingen
van Velthoven-Wurster, Dr., Vera, Freiburg
Walter, Dr., Henrik, Ulm
Wicht, Dr., Helmut, Frankfurt
Wolf, Prof., Gerald, Magdeburg
Wullimann, Prof., Mario, Bremen
Zeilhofer, Dr., Hans-Ulrich, Erlangen
Zimmermann, Prof., Manfred, Heidelberg

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.