Direkt zum Inhalt

Lexikon der Neurowissenschaft: Seitenlinienorgane

Seitenlinienorgane, Seitenorgane, Seitenlinie, Lateralisorgane, E lateral line organs, ein bei allen Fischen und im Wasser lebenden Amphibien an Kopf und Rumpf vorkommendes System von Sinnesorganen und deren Hilfseinrichtungen, das der Wahrnehmung von Wasserströmungen (Strömungssinn), Druckschwankungen sowie von elektrischen Feldern dient ( siehe Zusatzinfo 1 ). Man unterscheidet daher mechanorezeptive und elektrorezeptive Seitenlinienorgane (elektrosensorisches System). Die mechanosensorische Seitenlinie trägt als Rezeptoren sog. Neuromasten ( siehe Abb. 1 ). Ein Neuromast besteht aus nicht-nervösen Stützzellen und 20-30 cilientragenden Haarzellen. Jede dieser Haarzellen trägt ein Stereocilium und mehrere Kinocilien. Alle Cilien sind in eine gemeinsame Cupula (Gallerthaube) eingelassen. Sowohl die einzelnen Zellen als auch der Neuromast insgesamt sind polarisiert, d.h., sie sprechen bevorzugt auf Auslenkungen der Cupula in eine bestimmte Richtung an. Bei Neunaugen und manchen Amphibien liegen die Neuromasten in Reihen frei an der Oberfläche des Körpers, bei Knorpel- und Knochenfischen sinken sie in (teilweise knöchern umschlossene) Kanäle hinab, deren wassergefülltes Lumen über regelmäßig angeordnete Poren mit der Außenwelt in Verbindung steht. Diese Kanäle und Poren sind dann als die Linien auf dem Fischkörper erkennbar, die dem gesamten System seinen Namen gegeben haben ( siehe Abb. 2 ). Das Muster dieser Linien ist artspezifisch, aber zwischen verschiedenen Arten sehr variabel. – Die Neuromasten der Seitenlinie des Rumpfs und des Kopfes, ebenso wie die Ganglienzellen der Nerven, die deren Informationen den sensorischen Seitenlinienkernen des Myelencephalons zuleiten, gehen aus eigenen embryonalen Plakoden hervor, von denen es ursprünglich wohl sechs Paare gibt. Entsprechend entstehen ontogenetisch auch bis zu sechs – ursprünglich selbständige – Paare von sensorischen Seitenliniennerven und -ganglien, die allerdings später meist mit den anderen, benachbarten Hirnnerven (V, VII, IX, X) des Metencephalons und Myelencephalons und deren Ganglien verschmelzen. Früher schlug man diese Seitenlinienafferenzen als "speziell somatosensorische Komponente" zu diesen Hirnnerven vor. Heute hat es sich eingebürgert, die hinter der Ohrkapsel austretenden (postotischen; ursprünglich drei) Seitenliniennerven zusammenfassend als Nervus posterior lineae lateralis (E posterior lateral line nerve) und die präotischen (ebenfalls ursprünglich drei) entsprechend als Nervus anterior lineae lateralis zu bezeichnen. Das gemeinsame Zielgebiet der mechanorezeptiven Seitenliniennerven im Myelencephalon ist der Nucleus medialis areae octavo-lateralis. Er liegt in der Flügelplatte des Myelencephalons, ventral des Zielkerns der elektrosensorischen Anteile der Seitenlinie. Er ist stets von dem unter ihm liegenden Zielkern des Innenohrs (Nucleus ventralis areae octavo-lateralis), der die Informationen der Haarzellen des Innenohrs verarbeitet, deutlich getrennt ( siehe Zusatzinfo 2 ).

H.W.

Seitenlinienorgane

1 Die perzipierten Reize können durch das Tier selbst, Feinde, Beutetiere, Artgenossen oder Hindernisse hervorgerufen werden, wobei die Tiere in der Regel aufgrund der unterschiedlichen Eigenschaften der Reize deren auslösende Faktoren wahrnehmen und unterscheiden können. Den Seitenlinienorganen kommt somit eine funktionelle Bedeutung bei der Beute- und Feinderkennung, der Orientierung und sozialen Kommunikation zu. So vermag z.B. der Krallenfrosch mit Hilfe der Seitenlinienorgane ein Erschütterungszentrum im Wasser oder an der Wasseroberfläche bis auf eine Entfernung von 15 cm genau zu lokalisieren. Fische können mit diesem Organ den Staudruck "ertasten", der beim Anschwimmen eines Hindernisses entsteht (Ferntastsinn).



Seitenlinienorgane

Abb. 1: Längsschnitt durch einen Seitenlinienkanal, eine Pore und einen Neuromasten



Seitenlinienorgane

Abb. 2: Lage und Bezeichnung der größten Seitenlinien bei einem Knochenfisch
Kasten: Detailansicht einer Seitenlinie

Seitenlinienorgane

2 Da sowohl das Innenohr, sein Nerv und sein Ganglion, als auch die Seitenlinie, ihre Nerven und ihre Ganglien aus Plakoden hervorgehen, und da beide Haarzellen als Rezeptoren tragen, glaubte man, daß beide Systeme sich aus einem ursprünglich einheitlichen Sinnessystem evolviert hätten. Man prägte den Begriff Octavo-lateralis-System, um die Ähnlichkeit beider Sinnesorgane zu unterstreichen. Allerdings kommen bei allen primär aquatischen Wirbeltieren, auch den fossilen, die beiden Systeme nebeneinander vor, und es gibt einige Hinweise darauf, daß die otische Plakode (aus der das Innenohr und sein Ganglion hervorgehen) stammesgeschichtlich älter ist als die Wirbeltiere und deren Seitenlinienplakoden. Die beiden Systeme haben also, trotz ihrer Ähnlichkeiten, wahrscheinlich eine voneinander unabhängige Stammesgeschichte.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Die Autoren
Redaktion

Dr. Hartwig Hanser, Waldkirch (Projektleitung)
Christine Scholtyssek (Assistenz)

Fachberater

Prof. Albert Ludolph, Ulm
Prof. Lothar Pickenhain, Leipzig
Prof. Heinrich Reichert, Basel
Prof. Manfred Spitzer, Ulm

Autoren

Aertsen, Prof., Ad, Freiburg
Aguzzi, Prof., Adriano, Zürich
Baier, Dr., Harmut, Ulm
Bartels, Prof., Mathias, Tübingen
Becker, Dr., Andreas, Marburg
Born, Prof., Jan, Lübeck
Brecht, Dr., Stephan, Kiel
Breer, Prof., Heinz, Stuttgart
Carenini, Dr., Stefano, Würzburg
Cruse, Prof., Holk, Bielefeld
Culmsee, Dr., Carsten, Marburg
Denzer, Dr., Alain, Waldenburg
Egert, Dr., Ulrich, Freiburg
Ehrenstein, Dr., Walter, Dortmund
Eurich, Dr., Christian , Bremen
Eysel, Prof., Ulf, Bochum
Fischbach, Prof., Karl-Friedrich, Freiburg
Frey, Dunja, Basel
Fuhr, Dr., Peter, Basel
Greenlee, Prof., Marc, Oldenburg
Hartmann, Beate, Basel
Heck, Dr., Detlef, Freiburg
Heller, Prof., Kurt, München
Henkel , Dr., Rolf , Bremen
Herdegen, Prof., Thomas, Kiel
Herrmann, Dr., Gudrun, Bern
Hilbig, Dr., Heidegard, Leipzig
Hirth, Dr., Frank, Basel
Huber, Dr., Gerhard, Zürich
Hund, Martin, Basel
Illing, Dr., Robert Benjamin, Freiburg
Käch, Dr., Stefanie, Basel
Kästler, Dr., Hans, Ulm
Kaiser, Dr., Reinhard, Freiburg
Kaluza, Jan, Stuttgart
Kapfhammer, Dr., Josef P., Freiburg
Kestler, Dr., Hans, Ulm
Kittmann, Dr., Rolf, Freiburg
Klix, Prof., Friedhart , Berlin
Klonk, Dr., Sabine, Stuttgart
Klumpp, Prof., Susanne, Marburg
Kössl, Dr., Manfred, München
Köster, Dr., Bernd, Freiburg
Kraetschmar, Dr., Gerhard, Ulm
Krieglstein, Prof., Josef, Marburg
Krieglstein, Prof., Kerstin, Homburg
Kuschinsky, Prof., Wolfgang, Heidelberg
Lahrtz, Stephanie, Hamburg
Landgraf, Dr., Uta, Stegen
Laux, Thorsten, Basel
Lindemann, Prof., Bernd, Homburg
Löffler, Dr., Sabine, Leipzig
Ludolph, Prof., Albert, Ulm
Malessa, Dr., Rolf, Weimar
Marksitzer, Dr., Rene, Luzern
Martin, Dr., Peter, Kehl-Kork
Martini, Prof., Rudolf, Würzburg
Medicus, Dr., Gerhard, Thaur
Mehraein, Dr., Susan, Freiburg
Meier, Dr., Kirstin, Freiburg
Mendelowitsch, Dr., Aminadav, Basel
Mergner, Prof., Thomas, Freiburg
Metzinger, Dr., Thomas, Frankfurt am Main
Mielke, Dr., Kirsten, Kiel
Misgeld, Prof., Ulrich, Heidelberg
Moll, Joachim, Basel
Münte, Prof., Thomas, Magdeburg
Neumann, Dr., Harald, Planegg-Martinsried
Nitsch, Prof., Cordula, Basel
Oehler, Prof., Jochen, Dresden
Otten, Prof., Uwe, Basel
Palm, Prof., Günther, Ulm
Pawelzik, Prof., Klaus, Bremen
Pickenhain, Prof., Lothar, Leipzig
Ravati, Alexander, Marburg
Reichel, Dr., Dirk, Lübeck
Reichert, Prof., Heinrich, Basel
Reinhard, Dr., Eva, Bern
Rieckmann, Dr., Peter, Würzburg
Riemann, Prof., Dieter, Freiburg
Ritter, Prof., Helge, Bielefeld
Roth, Prof., Gerhard , Bremen
Roth, Lukas W.A., Bern
Rotter, Dr., Stefan, Freiburg
Rubin, Dr., Beatrix, Basel
Ruth, Dr., Peter, Giessen
Schaller, Dr., Bernhard, Basel
Schedlowski, Prof., Manfred, Essen
Schneider, Dr., Werner X., München
Scholtyssek, Christine, Umkirch
Schwegler, Prof., Helmut , Bremen
Schwenker, Dr., Friedhelm, Ulm
Singer, Prof., Wolf, Frankfurt am Main
Spiegel, Dr., Roland, Zürich
Spitzer, Prof., Manfred, Ulm
Steck, Prof., Andreas, Basel
Steinlechner, Prof., Stephan, Hannover
Stephan, Dr., Achim, Rüsselsheim
Stoeckli, Dr., Esther, Basel
Stürzel, Frank, Freiburg
Swandulla, Prof., Dieter, Erlangen
Tolnay, Dr., Markus, Basel
Unsicker, Prof., Klaus, Heidelberg
Vaas, Rüdiger, Bietigheim-Bissingen
van Velthoven-Wurster, Dr., Vera, Freiburg
Walter, Dr., Henrik, Ulm
Wicht, Dr., Helmut, Frankfurt
Wolf, Prof., Gerald, Magdeburg
Wullimann, Prof., Mario, Bremen
Zeilhofer, Dr., Hans-Ulrich, Erlangen
Zimmermann, Prof., Manfred, Heidelberg

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.