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Lexikon der Neurowissenschaft: Wählen

Wählen, E choosing, decision-making, das durch die gerade vorliegende Situation bedingte Entscheiden zwischen verschiedenen Alternativen. Die dabei ablaufenden bewußten oder unbewußten Planungsprozesse spielen für die Ausführung von Willenshandlungen eine entscheidende Rolle (Willkürmotorik, Willensfreiheit). Dies manifestiert sich auf verschiedenen hierarchischen Stufen, von Muskelbewegungen über Körperbewegungen, Routinen, Verhaltensweisen, Taktik bis zu langfristigen Strategien. Die diesen Vorgängen zugrundeliegenden Hirnaktivitäten ( siehe Zusatzinfo ) finden insbesondere im präfrontalen Cortex, im anterioren Cingulum, in der Amygdala und im temporalen Pol im Schläfenlappen statt. Läsionen an diesen Orten führen zu eingeschränkten Wahlmöglichkeiten bis hin zu schweren, hauptsächlich sozialen Beeinträchtigungen (Frontallappensyndrom). Beim Wählen spielen zum einen kognitive Prozesse (Kognition) eine Rolle, insbesondere logisches Schließen (Logik) und das Finden abstrakter Regeln, deren Erinnerung und Überprüfung sowie kontextabhängige Änderung (Vorgänge im präfrontalen Cortex, Arbeitsgedächtnis), zum anderen aber auch Emotionen, die insbesondere in komplexen Situationen die Entscheidungsfindung abkürzen bzw. überhaupt erst ermöglichen (limbisches System). Als maßgebliche Vermittler fungieren dabei somatische Marker. Schleifenartige Schaltkreise von den Basalganglien über den Thalamus zum Cortex spielen bei Wahlprozessen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Darüber werden auch interne Belohnungsreize vermittelt, die auf dopaminergen Systemen zu basieren scheinen und bei Sucht gleichsam alle anderen Prozesse dominieren. Der Frontallappen ist ein Motorcortex im weitesten Sinn des Wortes, hier wird ein großer Bereich von Handlungen repräsentiert und mit initiiert: Skelett- und Augenmuskelbewegungen, Sprechen und sogar das "innere Handeln" (z.B. Schlußfolgern). In sozialen Kontexten scheint das serotonerge System (Serotonin) eine wichtige Determinante zu sein. Ein hoher Platz in der Rangordnung und entsprechende soziale Entscheidungen korrelieren mit einer erhöhten Dichte von Serotoninrezeptoren im orbitofrontalen Cortex. Strenggenommen finden Wahlprozesse auch bei allen unbewußten Vorgängen der Bewegungssteuerung (z.B. Augen- und Kopfbewegungen) und der Wahrnehmung (was wird wie lange registriert usw.) statt.

Lit.: Damasio, A.R. u. H., Christen, Y. (Hrsg.): Neurobiology of Decision-Making. Berlin, Heidelberg 1996. Vaas, R.: Naturwissenschaftliche Rundschau 53 (2000), S. 192-193.

Wählen

Entscheidungen im Gehirn:
"Ein Akt, der so einfach, geradezu eine Trivialität zu sein scheint, ist das Richten des Blickes. Aber seine Vollzieher bemühen das Großhirn allenthalben", schrieb Charles Sherrington bereits 1940. Von ihm stammt die Theorie, daß Entscheidungen wie Reflexe funktionieren: Ein bestimmter Sinneseindruck wird mit einer bestimmten Muskelbewegung beantwortet. Diese Idee hat René Descartes schon vor über 300 Jahren geäußert. Doch Kognitionspsychologen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler haben seit langem erkannt, daß beim Wahlverhalten auch Bewertungen, Erwartungen und Erinnerungen eine Rolle spielen. Die Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten erfolgt nicht wie bei einem Kniesehnenreflex, sondern wird von Nervenzellen nach dem günstigsten Ergebnis regelrecht errechnet. – In der sogenannten lateralen intraparietalen Area im Scheitellappen der Großhirnrinde gibt es Neurone, die visuelle Reize in Augenbewegungen umsetzen. Lange wurde vermutet, diese senso-motorische Kopplung funktioniere rein reflexhaft. Kürzlich wurde aber entdeckt, daß die Aktivitäten dieser Zellen auch die Erwartung der Folgen dieser Bewegungen widerspiegeln. Dies konnte in Experimenten mit Rhesusaffen gezeigt werden, die vor einem dunklen Schirm saßen und auf ein kleines Lichtkreuz starrten. Dann wurden links und rechts davon je eine Leuchtdiode angeschaltet. Die Affen blickten entweder zuerst zur linken oder zur rechten Diode. Im ersten Experiment wurde der Blick zu einem der Lichter mit Fruchtsaft belohnt, der Blick zum Licht gegenüber brachte dem Tier nichts ein. Nach 50 oder 100 solchen Tests wurde die Belohnung für das jeweils andere Licht gegeben. Im zweiten Experiment gab es für beide Blickrichtungen Saft, aber in unterschiedlicher Menge. Auch diese Belohnung wechselte nach 50 oder 100 Einzeltests. Die Affen lernten rasch, sich auf das jeweils lukrativere Ziel auszurichten. Während der Versuche registrierte man die Aktivitäten von 40 einzelnen Nervenzellen mit Hilfe von Elektroden. Ergebnis: Die Aktivitäten der Neuronen korrelierten sowohl mit der Wahrscheinlichkeit dafür, welche Blickrichtung lukrativer war, als auch mit der Höhe der Belohnung. Die Neurone verhielten sich meistens so, als ob sie wüßten, welche Entscheidung die bessere ist, und genauso handelten die Affen auch. Das läßt sich mit einem Reflex-Modell kaum in Einklang bringen. Offenbar ist die Fähigkeit, verschiedene Alternativen abzuwägen und die bessere zu wählen, daß Ergebnis neuronaler Verrechnungsprozesse. Wo diese Bewertungen verarbeitet werden, welche Gehirnregionen die vorausgegangenen Erfahrungen speichern und wie sie auf die Muskelbewegungen einwirken, ist noch unbekannt. Bei anderen und komplexeren Entscheidungen sind diese Vorgänge wahrscheinlich über weite Hirnbereiche verteilt. Die Erkenntnisse könnten auch von medizinischem Nutzen sein, etwa bei der Behandlung der Folgen von Schlaganfällen und Hirntumoren (Neuropsychologie). Möglicherweise beruhen nämlich manche Lähmungen nicht darauf, daß es den Patienten nicht mehr gelingt, bestimmte Muskeln zu aktivieren, sondern sie sind unfähig, sich für die richtigen Bewegungen zu entscheiden.

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