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Lexikon der Neurowissenschaft: Wahn

Wahn m, E delusion, ein psychopathologisches Symptom, das bei verschiedenen neuropsychiatrischen Erkrankungen, insbesondere der Schizophrenie, auftreten kann, im klinischen Alltag zwar oft ohne Schwierigkeiten zu erkennen ist, dessen allgemeine Definition aber problematisch ist. In Wahnanfällen stehen Themen im Zentrum, die uns alle betreffen: die Beziehung zu Mitmenschen (Verfolgungswahn), zum eigenen Gewissen (Schuldwahn), Macht und Ohnmacht (Größenwahn und Kleinheitswahn), Liebe und Haß (Liebeswahn und Eifersuchtswahn) und die Sorge um Leib und Leben (Körperwahn, Vergiftungswahn). Typische Beispiele sind etwa die Überzeugungen, man werde von fremden Mächten verfolgt (Verfolgungswahn bei Schizophrenie), man werde durch elektronische Geräte gesteuert (Beeinflussungswahn bei Schizophrenie), oder man sei für alle Probleme der Familie, persönliche Schwierigkeiten und seine eigene Krankheit schuldhaft verantwortlich (Schuldwahn bei Depression). – Fast alle heutigen Wahndefinitionen lehnen sich an die drei Wahnkriterien von Karl Jaspers an: subjektive Gewißheit, Unkorrigierbarkeit, Unmöglichkeit des Inhalts. Doch nicht jede "subjektiv gewisse, unkorrigierbare irrtümliche Überzeugung" ist ein Wahn, wie das Beispiel politischer Ideologien zeigt. Nicht jeder Wahn hat einen unmöglichen Inhalt, siehe den Eifersuchtswahn. Religiöse Überzeugungen erfüllen oft die ersten beiden Wahnkriterien und, aus der Sicht einer anderen Religion, auch das der Falschheit. Dennoch würde man zögern, alle religiösen Überzeugungen als Wahn zu bezeichnen. Andererseits gibt es Beispiele religiösen Wahns bei schizophrenen Erkrankungen. Was also ist Wahn? Die Kriterien der subjektiven Gewißheit und Unkorrigierbarkeit sind als Merkmale des Wahns weithin unumstritten. Problematisch ist das dritte Kriterium, da hier Richtigkeit, Normen und die Auffassung von Realität eine wesentliche Rolle spielen. Neuere Wahndefinitionen versuchen daher eher formale Kriterien miteinzubeziehen, wie etwa die "Ich-Bezogenheit" oder die formale Analogie zu Aussagen über den eigenen mentalen Zustand. Bei der Schizophrenie, bei der am häufigsten ein Verfolgungswahn auftritt, steht am Anfang der Wahnentwicklung häufig eine Wahnstimmung, eine Ahnung, daß "etwas in der Luft liegt", eine mißtrauische Spannung. Alltäglichen Vorkommnissen wird eine besondere Bedeutung zugemessen, sie werden als Zeichen gedeutet. Der Kranke bezieht viele Dinge, die nichts mit ihm zu tun haben, auf sich persönlich (Beziehungsdenken). Was in der Zeitung steht, was der Nachrichtensprecher sagt, soll dem Kranken etwas Bestimmtes mitteilen. Er ist sicher, daß andere in seiner Abwesenheit nur über ihn sprechen, sich über ihn lustig machen. Die Wahnstimmung ist oft sehr quälend. Plötzliche Gewißheit oder bestimmte Überzeugungen, die all dies erklären, können dann wie eine Erlösung wirken. Nun weiß der Kranke genau, er wird verfolgt oder manipuliert, nun kann er sich auf seine Feinde konzentrieren, etwas unternehmen. Meist werden die Wahngedanken rasch komplexer, es bildet sich ein Wahnsystem aus. – Neben der reichhaltigen beschreibenden und theoretischen Literatur gibt es inzwischen auch neurobiologische Modelle des schizophrenen Wahns auf verschiedenen Ebenen. Man geht davon aus, daß bei akuten schizophrenen Episoden eine Überaktivität des dopaminergen Systems eine Rolle spielt. Der Neurotransmitter Dopamin verstärkt das Signal-Rausch-Verhältnis neuronaler Signale. Dies könnte erklären, warum unbedeutenden Ereignissen eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren haben gezeigt, daß bei Beeinflussungswahn diejenigen Regionen besonders aktiv sind, die mit der Einordnung von Gedanken in ein Selbstsystem von besonderer Bedeutung sind, wie der Gyrus cinguli anterior und der inferiore Scheitellappen der rechten Hemisphäre. Neuropsychologische Theorien argumentieren, daß die Unterscheidung zwischen intern (selbst) generierten Gedanken und fremden Gedanken nicht mehr gelingt. Das interne Überwachungssystem, das eine solche Unterscheidung normalerweise ermöglicht, wird mit dem Frontallappen in Zusammenhang gebracht. Eine wahnhafte Überzeugung wäre dann eine theoretische, subjektiv überzeugende Erklärung für Erlebnisse von subjektiv herausgehobener Bedeutung. Liegt eine solche Erklärung einmal vor, werden weitere Erfahrungen in diesem Sinne interpretiert und führen so zur Verfestigung eines Überzeugungssystems, die sich in einer dauerhaften Änderung neuronaler Verknüpfungen (Synapsen) niederschlägt. Ob sich solche physiologischen Erklärungen bewähren, wird durch weiterführende Forschung zu klären sein.

He.Wa.

Lit.: Frith, C.: The cognitive neuropsychology of schizophrenia. Hillsdale, 1992. Jaspers, K.: Allgemeine Psychopathologie. Berlin, 1973. Servan-Schreiber, D. et al.: A network model of catecholamine effects: gain, signal-to-noise ratio, and behavior. Science 249 (1990), S. 892-895. Spence, A. et al.: A PET study of voluntary movement in schizophrenic patients experiencing passivity phenomena (delusions of alien control). Brain 120 (1997), S. 1997-2011. Spitzer, M.: Was ist Wahn? Springer, 1989. Spitzer, M.: A neurocomputational approach to delusions. Compr Psychiat 36 (1995), S. 83-105.

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