Metzler Philosophen-Lexikon: Calvin, Johann (d. i. Jean Cauvin)
Geb. 10. 7. 1509 in Noyon/Picardie; gest. 27. 5. 1564 in Genf
Als 1555 im Augsburger Religionsfrieden eine Stabilisierung und Reglementierung der Lage im konfessionell zerstrittenen Deutschland angestrebt wurde, fand dieser Ausgleich nur zwischen Lutheranern und altgläubigen Katholiken statt. Eine zweite Welle von reformiertem Gedankengut, die in der Folgezeit großen Einfluß in England, Frankreich, den Niederlanden und manchen deutschen Territorien gewinnen sollte, erweckte zu diesem Zeitpunkt noch den Eindruck, als ob man sie bei dem konfessionellen Ausgleich vernachlässigen könne. Ausgangspunkt dieses zweiten Schubs war Genf, C. der Reformator.
Als Sohn des hohen bischöflichen Beamten Gérard Cauvin (der Name Calvin stellt eine unter humanistischem Einfluß vorgenommene Latinisierung des Vaternamens dar) war der 1509 geborene Jean für eine höhere kirchliche Laufbahn vorgesehen. Schon in seiner Jugend übernahm er auf Vermittlung des Vaters wichtige Pfründen, deren Einnahmen es ihm ermöglichten, ab 1523 das renommierte Collège Montaigu in Paris zu besuchen, an dem schon Erasmus und Rabelais Schüler gewesen waren. Die Pariser Zeit brachte C. auch in Kontakt mit dem Humanismus, bevor er 1527 nach Orléans wechselte, um sich auf eine juristische Karriere vorzubereiten. Diese Änderung in der vorgesehenen kirchlichen Laufbahn war noch durch den Vater in die Wege geleitet worden. Nach dessen Tod (1531) kehrte C. nach Paris zurück und widmete sich am Collège Royal den humanistischen Studien, den alten Sprachen und der klassischen Philologie. Den Schritt vom humanistischen Reformkatholizismus zur Reformation vollzog er zwischen 1533 und Frühjahr 1534. Er verzichtete auf seine Pfründe und verließ wegen der Protestantenverfolgungen 1534 Frankreich. Eher durch Zufall kam C. 1536 auf der Reise nach Straßburg auf einem Umweg nach Genf. Der dortige Reformator Wilhelm Farel bat ihn, den theologischen Autodidakten, an der Durchführung der Reformation mitzuwirken. Doch C.s Engagement in Genf stieß bald auf den Widerstand der politisch führenden Patrizierschicht, die ihn und Farel 1538 zum Verlassen der Stadt zwangen. In den folgenden Jahren des Exils in Straßburg (1538–1541), in denen er auf Wunsch des Reformators Martin Bucer die dortige französische Exilgemeinde betreute, bereitete er die zweite Ausgabe seines Hauptwerkes, der Christianae Religionis Institutio, vor. Die erste, 1536 in Basel erschienene Auflage war in Form einer katechetischen Unterweisung dem französischen König Franz I. gewidmet; diesen sollte sie davon überzeugen, daß die französischen Protestanten keine Umsturzpläne hegten. In Straßburg baute C. sein Werk, das er in späteren Jahren noch öfter überarbeitete, zu einer breit angelegten Dogmatik aus. Er übernahm darin Gedanken von Luther und Zwingli und erweiterte sie zu seinem eigenen theologischen Lehrgebäude. Starke augustinische Traditionen spiegeln sich in der Lehre von der doppelten Prädestination wider, die C. in der Ausgabe von 1559/60 definierte als »Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet.« C. nahm in seiner Definition die Auseinandersetzung um den freien Willen zwischen Erasmus und Luther auf, entschied sich aber vollends gegen die humanistische Tradition des Erasmus.
Politische Veränderungen in Genf ermöglichten dem Reformator 1541 die Rückkehr in die Stadt, die er in den folgenden Jahren radikal umgestalten sollte. Grundlage dafür bildeten die in C.s Kirchenordnung festgelegten vier Ämter des Pfarrers, der die Theologie unterrichtenden Gelehrten, der aus der Gemeinde gewählten Ältesten und der für die caritative Arbeit zuständigen Diakone. Die Ältesten (Presbyter) beaufsichtigten zusammen mit den Pfarrern im Konsistorium die Kirchenzucht. Die Überwachung des sittlichen Lebens, die wegen ihrer Schärfe während C.s erstem Aufenthalt in Genf ein Grund des Bruches mit dem Magistrat war, stellte ein Zentralanliegen C.s dar, da er Kirchenordnung und Gebot Christi in eins setzte. So wurden zwischen 1541 und 1546 56 Todesurteile und 78 Verbannungen ausgesprochen, eine Zahl, die um so höher einzuschätzen ist, da Genf nur etwa zehntausend Einwohner zählte. Die Opposition gegen C., die vom gegnerischen Bern unterstützt wurde, brach um 1555 nach der Ausweisung ihrer Führer in sich zusammen. In der Union der Genfer mit der Züricher Kirche im Consensus Tigurinus (1549) wurde die Einheit der schweizerischen Reformierten vorbereitet, ein Ausgleich mit den Lutheranern kam dagegen wegen der verschiedenen Auffassungen in der Abendmahls- und Prädestinationslehre nicht zustande. Durch die Errichtung der Genfer Hochschule (1559), die ganz Europa umfassende Korrespondenz C.s und nicht zuletzt durch die 1559/60 nochmals überarbeitete Christianae Religionis Institutio und den 1542 verfaßten Genfer Katechismus erreichten C.s Gedanken bald weite Verbreitung und führten zur Herausbildung des Calvinismus als dritter christlicher Konfession in Europa.
Opitz, Peter: Calvins theologische Hermeneutik. Neukirchen 1994. – Dankbaar, Willem F.: Calvin. Sein Weg und Werk. Hamburg 21976. – Neuser, Wilhelm: Calvin. Berlin 1971. – Staedtke, Joachim: Johannes Calvin. Erkenntnis und Gestaltung. Göttingen 1969.
Wolfgang Zimmermann
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