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Metzler Philosophen-Lexikon: Helvétius, Claude Adrien

Geb. 26. 1. 1715 in Paris;

gest. 26. 12. 1771 in Paris

Als Voltaire Ende der 60er Jahre in einer Versepistel anläßlich der Herausgabe eines atheistischen Textes durch den Holbach-Kreis sein berühmtes Diktum tätigt, daß »wenn es Gott nicht gäbe, man ihn erfinden müsse«, und er den »falschen Raisonneur« warnt, sein Steuerschuldner, sei er Atheist, werde ihn deswegen nicht besser bezahlen, da zielte diese Spitze mit Sicherheit gegen den ehemaligen königlichen Steuerpächter H., der gerade im Begriff stand, die Publikation von De l homme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation (1773; Vom Menschen, von dessen Geisteskräften und von der Erziehung desselben) vorzubereiten. Der französische materialistische Philosoph und Atheist H. gehörte in der Tat zu jenem radikalen philosophischen Flügel der Aufklärung um d’Holbach und Diderot, der zwischen 1765 und 1770 den Sensualismus zum Materialismus und den Antiklerikalismus zum Atheismus weiterentwickelte und sich damit den Zorn Voltaires zuzog, der die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung fürchtete.

H. war nicht zum Umstürzler berufen. Er entstammt der wohlhabenden Familie des »ersten Arztes« der Königin und erhält am von Jesuiten geleiteten Collège Louis le Grand die zu dieser Zeit bestmögliche Ausbildung. Der Vater kauft 1738 dem frühreifen, glänzend begabten und von den Frauen geliebten Jüngling das Amt eines Generalsteuerpächters, dessen gewaltige Einkünfte es H. erlaubten, sich mit 36 Jahren als Schloßherr zurückzuziehen. Sein sofort erworbenes neues Amt als Kammerherr der Königin übt er vier Monate im Jahr aus. In dieser Zeit unterhält er einen Salon in Paris und versammelt mit Grimm, Diderot, d’Alembert u. a. einen Kreis von bekannten Schöngeistern und Aufklärern um sich. H. verliert das Amt beim Skandal um sein vom Obersten Gerichtshof, der Sorbonne, dem Erzbischof von Paris, vom Papst und vom das Druckprivileg widerrufenden König verurteiltes und öffentlich verbranntes Hauptwerk, De l esprit (1758; Vom Geist), jedoch kann er seine Stellung am Hof bald wieder festigen und wird 1765 sogar mit diplomatischen Aufgaben am preußischen Hof betraut. 1764 unternimmt er die für einen Aufklärer obligate Reise nach England, wo sein in Frankreich verfemtes Werk begeistert aufgenommen worden war. Die »traditionelle Klassenherrschaft« Englands beurteilt er im nachhinein sehr skeptisch. Als H. im Zuge des die Gerichtshöfe auflösenden Staatsstreichs Maupeous von 1771 seine Protektion am Hof verliert, verzichtet er auf die Publikation von De l homme, die gesellschaftstheoretische Vertiefung seines ersten Werks, verfällt in Depression und stirbt noch im selben Jahr.

Seine geistigen Lehrjahre in der Frühaufklärung stehen im Banne Bernard de Fontenelles, von dem er die Theorie der Vorurteile und der Gleichheit der Menschen übernimmt und der ihn mit dem Sensualismus Lockes bekannt macht. Dessen Inkonsequenzen legt H. bereits 1740, noch vor Condillac, in seiner Épître sur l orgueil et la paresse (Brief über den Hochmut und die Trägheit) offen. Ab 1745 arbeitet er an De l esprit, dem »gewaltigen Keulenschlag gegen die Vorurteile« (Diderot), in dem er es unternimmt, »die Ethik wie die Experimentalphysik zu betreiben«. Mit vielen Aufklärern teilt er den naturrechtlichen, vom Individuum ausgehenden Denkansatz, so wenn er in seiner Nützlichkeitstheorie die Verbindung von Einzel- und Gesamtinteresse vom individuellen Glücksstreben her modelliert, das den Zweck des sittlichen Handelns der Menschen in sich berge. Bedeutsam ist seine Zentralstellung der »Erziehung« – darunter zählt er auch die »Regierungsform« –, um die individuellen und gesellschaftlichen Unterschiede zu erklären. Originell, wenn auch nicht systematisch entwickelt, sind die Einführung der Kategorie des Interesses in die Erkenntnistheorie, die Lösung von der Priesterbetrugstheorie zugunsten einer Erklärung der Religion aus dem Glücksstreben der Menschen, schließlich die Vermutungen über die Grundlegung von Politik und Recht in den ökonomischen Lebensbedingungen. Mit diesen Auffassungen beeinflußt er die Erkenntnistheorie der Idéologues (Pierre Jean Georges Cabanis, Antoine Destutt de Tracy), die ebenfalls aus der physiologisch-psychischen Organisation des Menschen Regeln für Erziehung, Moral, Recht und Politik abzuleiten suchten, den englischen Utilitarismus Jeremy Benthams und John Stuart Mills, welche die Nützlichkeitstheorie enger mit der Ökonomie verbinden, schließlich die Religionskritik und die Basis-Überbau-Theorie von Karl Marx.

Tucek, Angela: Legitimierung pädagogischer Zielsetzungen bei den französischen Naturphilosophen La Mettrie und Helvétius. Bern/Stuttgart 1987. – Krauss, Werner: Helvétius. In: Essays zur französischen Literatur. Berlin/Weimar 1968. – Momdshian, Ch. N.: Helvétius, ein streitbarer Materialist des 18. Jahrhunderts. Berlin 1959.

  • Die Autoren
Herausgegeben von Bernd Lutz

Albert, Claudia (Berlin): Ariès, Diderot, Elias, Jonas, Ricoeur
Altmayer, Claus (Saarbrücken): Garve
Arend, Elisabeth (Bremen): Bourdieu, Durkheim, Ficino
Askani, Hans-Christoph (Paris): Bultmann, Lévinas, Rosenzweig
Bachmaier, Helmut (Konstanz): Herodot, Simmel
Baecker, Dirk (Witten/Herdecke): Baudrillard
Baltzer, Ulrich (München): Searle
Baumhauer, Otto A. (Bremen): Gorgias, Hippias, Prodikos, Protagoras
Beierwaltes, Werner (München): Proklos Diadochos
Benz, Hubert (Marburg): Iamblichos
Berger, Siegfried (Köln): Comte
Bergfleth, Gerd (Tübingen): Bataille
Bernard, Wolfgang (Rostock): Alexander von Aphrodisias, Nikomachos
Berressem, Hanjo (Aachen): Guattari
Beutel, Albrecht (Münster): Luther
Böhlke, Effi (Berlin): Berdjaev, Solov’ëv, Tocqueville
Boin, Manfred (Köln): Fichte
Borkopp, Peter (London): Schleiermacher
Bormann, Claus von (Bielefeld): Lacan, Lévi-Strauss
Brede, Werner (München): Plessner
Breidbach, Olaf (Jena): Oken
Deitz, Luc (Luxemburg): Antisthenes, Euklid, Kleanthes, Ptolemaios, Sextus Empiricus
Demmerling, Christoph (Dresden): Austin, Bolzano, Carnap, Chomsky, Feyerabend, Kripke, Kuhn, Ryle, Tugendhat
Dorowin, Hermann (Florenz): Ortega y Gasset
Dorsel, Andreas (Menlo Park, Cal.): Newton
Drechsler, Martin (Kreuzlingen): Anaxarch, Berkeley, Chrysippos, Schlick
Elsholz, Günter (Hamburg): Mill
Felten, Hans (Aachen): Saint-Simon
Fick, Monika (Aachen): Lessing
Fischer, Ernst Peter (Konstanz): Bohr, Darwin, Haeckel, Heisenberg, Helmholtz, Pauli, Piaget, Planck, Schrödinger
Fittkau, Ludger (Essen): Virilio
Flaßpöhler, Svenja (Münster): Butler
Früchtl, Josef (Münster): Rorty
Fülberth, Georg (Marburg): Bernstein, Luxemburg
Fütterer, Günther (Neusorg): Fromm
Gehring, Petra (Darmstadt): Serres
Gerhardt, Volker (Berlin): Kant
Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara (Dresden): Guardini
Gillies, Steven (Konstanz): Morris, Needham, Owen, Ricardo, D.F. Strauß
Gmünder, Ulrich (Caracas): Marcuse
Goldschmidt, Werner (Hamburg): Proudhon
Gönner, Gerhard (Bietigheim-Bissingen): Frege, Heraklit
Gosepath, Stefan (Berlin): Rawls
Gräfrath, Bernd (Essen): Hutcheson
Habermehl, Peter (Berlin): Anaxagoras, Anaximander, Augustinus, Boëthius, Clemens von Alexandria, Empedokles, Origenes, Parmenides, Philon von Alexandria, Pythagoras, Xenophanes, Zenon von Elea
Halfwassen, Jens (Heidelberg): Porphyrios
Hausmann, Frank-Rutger (Freiburg): Bodin, La Mettrie, Montesquieu
Heckl, Wolfgang M. (München): Einstein, Galilei
Heidrich, Christian: Kolakowski
Helferich, Christoph (Florenz): Croce, Gramsci, Hegel, Jung
Henckmann, Wolfhart (München): Bakunin, Scheler
Hildebrandt, Hans-Hagen (Essen): Grotius
Hoepner-Peña, Carola (Reichenau): Eriugena
Hoffmann, David Marc (Basel): Steiner
Hogemann, Friedrich (Bochum): Merleau-Ponty
Holenstein, Elmar (Zürich): Jakobson
Holtz, Sabine (Tübingen): Bonaventura
Holz, Hans Heinz (S. Abbondio): Lenin
Horst, Thomas (Stuttgart): Aristippos, Benjamin, Kierkegaard, Rickert
Horster, Detlef (Hannover): A. Adler, Aristoteles, Bloch, Habermas, Luhmann, Sokrates, Thomas von Kempen
Hose, Martin (München): Diogenes Laërtios
Hösle, Vittorio (Tübingen): Lullus
Hoyer, Ulrich (Münster): Gassendi
Hühn, Lore (Berlin): Schopenhauer
Hülle, Alexander (Stuttgart): Melanchthon, C.F. von Weizsäcker
Jamme, Christoph (Jena): Cassirer
Janowski, Franca (Stuttgart): Gentile
Jung, Thomas (Frankfurt am Main): Epiktet
Jung, Werner (Duisburg): Hartmann, Rosenkranz, Ruge
Kaegi, Dominic (Luzern): Heidegger
Kahl, Joachim (Marburg): Topitsch
Karge, Gesine (Berlin): Mach
Keil, Geert (Berlin): Apel, Strawson
Klein, Jürgen (Hamburg): Bacon
Knittel, Elisabeth (Allensbach): Voltaire
Knittel, Hermann (Allensbach): Seuse
Knopf, Jan (Karlsruhe): Korsch
Kocyba, Hermann (Frankfurt am Main): Deleuze
Köller, Wilhelm (Kassel): Peirce
König, Traugott (Frankfurt am Main): Barthes, Kojève, Sartre
Köpf, Ulrich (Tübingen): Bernhard von Clairvaux
Kraus, Manfred (Tübingen): Pyrrhon von Elis
Krauß, Henning (Augsburg): Beauvoir
Kreidt, Dietrich (Stuttgart): Thomasius
Krüger, Marlis (Bremen): Mannheim, Parsons
Kühnl, Reinhard (Marburg): Lukács, Marx/Engels, Spengler
Kulenkampff, Arend (Frankfurt am Main): Reid
Kytzler, Bernhard (Durban): Campanella, Cicero, Joachim da Fiore, Marc Aurel, Morus, Seneca, Xenophon
Laarmann, Matthias (Bochum): Heinrich von Gent
Lachmann, Rolf (Köln): Langer
Lambrecht, Lars (Hamburg): B. Bauer
Lang, Peter Christian (Frankfurt am Main): Adorno, Dilthey, Gadamer, Horkheimer, Plotin, Singer
Lazzari, Alessandro (Luzern): Reinhold
Lohmann, Hans-Martin (Heidelberg): Anders, Freud, Kautsky
Lunau, Martina (Tübingen): M. Mead, Toynbee
Lutz, Bernd (Stuttgart): Anselm von Canterbury, Jaspers, Löwith
Maas, Jörg F. (Hannover): Bayle, Danto, Goodman, Toulmin
Mai, Katharina (Stuttgart): Derrida
Martens, Ekkehard (Hamburg): Platon
Maser, Peter (Telgte): Buber, Scholem
Maurer, Ernstpeter (Dortmund): Quine, Wittgenstein
Meckel, Wolfgang (Staffel): Abaelard, Averroës, Avicenna, Maimonides, Ockham
Mehring, Reinhard (Berlin): Kelsen, Schmitt
Meier, Albert (Kiel): Holbach
Meier, Heinrich (München): L. Strauss
Mensching, Günther (Hamburg): Duns Scotus
Meuter, Norbert (Berlin): MacIntyre
Meyer, Thomas (Dortmund): Nelson
Mohl, Ernst Theodor (Seeheim-Jugenheim): Heß
Münch, Dieter (Berlin): Brentano
Neumann, Sabine (Münster): Flusser
Ollig, Hans-Ludwig (Frankfurt am Main): Cohen, Natorp, Riehl, Windelband
Opitz, Peter J. (München): Voegelin
Peter, Niklaus (Riehen/Basel): Overbeck
Pietsch, Christian (Mainz): Dionysius Areopagita
Pollmann, Karla (St. Andrews): Prudentius
Prechtl, Peter (München): Bentham, Dewey, Hume, James, G.H. Mead, Nussbaum, A. Smith, Taylor
Pries, Christine (Frankfurt am Main): Lyotard
Prill, Ulrich (Münster): Bachelard, Klossowski, Malebranche, Spinoza
Raab, Jürgen (Konstanz): Sennett
Raffelt, Albert (Freiburg): Blondel, Rahner
Rentsch, Thomas (Dresden): Husserl, Lask, Simmel, Suárez
Reschke, Renate (Berlin): Nietzsche
Richter, Mathias (Berlin): Castoriadis, Gorz
Rohr, Barbara (Bremen): Weil
Rommel, Bettina (Freiburg): Alembert, Condillac, Condorcet, Taine
Roughley, Neil (Konstanz): Gehlen
Sandkühler, Hans Jörg (Bremen): Dühring, Labriola, Plechanow, Schelling
Schäfer, Thomas (Berlin): Althusser, Foucault
Scherer, Georg (Oberhausen): Al-Farabi, Pieper, Stein, Thomas von Aquin
Schmidt-Biggemann, Wilhelm (Berlin): Leibniz, Pascal
Schmitz, Bettina (Würzburg): Irigaray, Kristeva
Schmitz, Matthias (Hamburg): Arendt, Herder, W. von Humboldt, Montaigne, Rousseau
Schneider, Thomas (Linsengericht): Hobbes, Locke, Machiavelli
Scholten, Clemens (Köln): Johannes Philoponos
Schönberger, Rolf (Regensburg): Buridanus
Schönwälder, Karen (London): Babeuf
Schorpp, Maria (Konstanz): Popper
Schürgers, Norbert J. (Lauf a. d.Pr.): M. Adler, Russell
Schwab, Hans-Rüdiger (Münster): Albertus Magnus, F. von Baader, L. Büchner, Erasmus von Rotterdam, Hemsterhuis, Reuchlin, Schweitzer
Semler, Christian (Berlin): Heller
Soeffner, Hans-Georg (Konstanz): Goffman
Stoecker, Ralf (Bielefeld): Davidson
Tenigl, Franz (Wien): Klages
Thaidigsmann, Edgar (Ravensburg): Barth, Tillich
Theisen, Joachim (Nea Kifissia/Athen): Meister Eckhart, Tauler
Thiel, Rainer (Marburg): Simplikios
Thoma, Heinz (Halle): Helvétius
Thunecke, Inka (Berlin): Camus
Ulrich, Jörg (Kiel): Hildegard von Bingen
Vietta, Silvio (Hildesheim): Vico
Villwock, Jörg (Niederhausen/Ts.): Blumenberg
Vogt-Spira, Gregor (Greifswald): Menander, Theophrast
Vöhler, Martin (Berlin): Longinos
Voigt, Uwe (Bamberg): Comenius
Vollhardt, Friedrich (Hamburg/Gießen): F. H. Jacobi, Mandeville, Mendelssohn, Shaftesbury
Waszek, Norbert (Paris): Stirner
Weber, Walter (Bremen): Baumgarten, Reimarus, Teilhard de Chardin, Wolff
Weinmann, Martin (Wiesbaden): Bergson
Weiß, Johannes (Kassel): Weber
Welsch, Wolfgang (Magdeburg): Lyotard
Werner, Reinold (Paris): Böhme, Marcel, Nikolaus von Kues
Wetzel, Michael (Bonn): Derrida
Wichmann, Thomas (Berlin): Descartes, Saussure
Wild, Reiner (Mannheim): Hamann
Willaschek, Marcus (Münster): Putnam
Winter, Michael (Koblenz): Fourier, Paine, Sade
Wohlrapp, Harald (Hamburg): Lorenzen
Wolf, Frieder Otto (Berlin): Ferguson, Goldmann, Lefebvre
Wörther, Matthias (München): Kepler, Kopernikus, Whitehead
Wüstehube, Axel (Münster): Moore
Zacher, Klaus-Dieter (Berlin): Demokrit, Epikur, Leukipp, Lukrez, Plutarch
Zeidler, Lothar (Edison/New York): Spencer
Zimmer, Jörg (Girona): Holz
Zimmermann, Bernhard (Konstanz): Anaximenes, Antiphon, Diogenes von Sinope, Kritias, Thales
Zimmermann, Wolfgang (Tübingen): Bruno, Calvin, Pico della Mirandola, Weigel
Zinser, Hartmut (Berlin): Feuerbach

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