Metzler Philosophen-Lexikon: Kant, Immanuel
Geb. 22. 4. 1724 in Königsberg;
gest. 12. 2. 1804 in Königsberg
»Der Charakter eines wahren Philosophen ist der, daß er nichts thut, als die Natürlichen Kräfte und Fähigkeiten zu exercieren, und zwar durch die nachforschende Untersuchung der Critic.« Bescheidener läßt sich der Anspruch, von dem sich K. auf dem Weg zu seiner Kritik der reinen Vernunft leiten ließ und der eine bis heute nicht bewältigte »Revolution der Denkart« bewirkte, wohl kaum formulieren. Die Übung und Entwicklung der besten menschlichen Kräfte allein durch Kritik verdient nach seiner Ansicht allerdings nur dann den Titel der Philosophie, wenn sie aus einem selbständigen Denken stammt: »Meine Philosophie muß in mir selbst, und nicht im Verstand anderer gegründet seyn.« Dabei darf sie aber nicht nur der Befriedigung individueller Neugierde dienen, sondern muß auf das »Interesse der Menschheit« bezogen sein; er würde sich »unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter«, so schreibt K. im Beginn seiner kritischen Laufbahn, wenn er nicht glauben könnte, daß seine Philosophie dazu beitragen werde, »die Rechte der Menschheit herzustellen«. – K. stammt aus einer in kärglichen Verhältnissen lebenden Handwerkerfamilie, wird auch auf der Schule im strengen Geist des Pietismus erzogen und bezieht als 16jähriger die Universität seiner Heimatstadt. Das Studium verdient er sich u. a. durch Privatstunden und durch Gewinne beim Billardspiel. Die Breite seiner Studienfächer – Mathematik, Naturwissenschaften, Theologie, Philosophie und lateinische Philologie – findet sich im weiten Spektrum seiner späteren Arbeitsgebiete wieder. Zunächst gilt sein Interesse der modernen Physik; in Newtons Philosophiae naturalis Principia mathematica sieht er das Ideal strenger Wissenschaft schlechthin.
K.s erste wissenschaftliche Publikation, die Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1749), ist vor allem wegen ihres weit vorausweisenden Anspruchs von Bedeutung. Der 24jährige versucht einen mathematischen Streit zwischen Cartesianern und Leibnizianern durch einen standpunktrelativen Vermittlungsvorschlag beizulegen und erklärt: »Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.« Nachdem K. durch den Tod des Vaters die finanzielle Unterstützung verliert, verläßt er 1746 die Universität, um als Hauslehrer in verschiedenen Familien seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei hat er offenbar Gelegenheit zu ausgedehnten naturwissenschaftlichen Studien, deren Ertrag er in der 1755 anonym erscheinenden Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels vorlegt. Die Entstehung des Kosmos und der Sonnensysteme sowie die Entwicklung der Erde bis hin zum Auftritt des Lebens und des vernunftbegabten Menschen werden allein aus physikalischen Gesetzen abgeleitet. Durch seine Erklärung der Entstehung der Himmelskörper aus einem rotierenden Gasnebel nimmt K. die Laplacesche Theorie vorweg, und durch seine Erkenntnis, daß es sich bei den Spiralnebeln um weit entfernte Galaxien handelt, sichert er sich einen festen Platz in der Geschichte der Astronomie.
Das Jahr 1755 führt K. auch an die Universität zurück. Er promoviert mit einer Meditation »über das Feuer« (De igne) und habilitiert sich wenige Monate später mit einer Abhandlung über die »ersten Grundsätze der metaphysischen Erkenntnis« (Nova dilucidatio). In dieser Schrift wird das Problemfeld abgesteckt, in dem er sich zeit seines Lebens bewegt. Auch die später so genannte »Transzendentalphilosophie« der kritischen Periode bleibt auf die »ersten Grundsätze« bezogen, wenn sie nach den »Bedingungen der Möglichkeiten« unserer Erkenntnis fragt. Obgleich diese »Bedingungen der Möglichkeit« nicht mehr in einem göttlichen Verstande lokalisiert, sondern als allgemeine Funktionsbedingungen des menschlichen Verstandes – und insofern »a priori« – begriffen werden, sind sie doch noch Gegenstand der Metaphysik.
Metaphysik ist für K. jede wissenschaftliche Erkenntnis, sofern sie genötigt ist, mit Begriffen über die bloß empirische Erfahrung hinauszugehen. Dies ist stets der Fall, wo von Erkenntnis überhaupt, von Welt oder Wirklichkeit, von Sittlichkeit, Schönheit oder Geschichte gesprochen wird. So verstanden ist die Transzendentalphilosophie eine »Metaphysik von der Metaphysik«. Man darf daher Mendelssohns berühmtes Wort, K. sei der »Alleszermalmer« der Metaphysik, nicht so verstehen, als sei durch die Kritik alle Metaphysik zerstört; K. hat vielmehr den Ansätzen der theorationalen und der empiristischen Metaphysik den Boden entzogen und neue, »kritische« Standards gesetzt, denen eine wissenschaftliche Metaphysik genügen können muß.
In den mehr als 25 Jahren zwischen der Habilitation von 1755 und der Publikation der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781 entstehen zahlreiche Arbeiten, die sich um eine Grundlegung theoretischer und praktischer Metaphysik bemühen. K. experimentiert auch mit empirisch ansetzenden Verfahren und läßt eine sich später nicht verlierende Sympathie für skeptische Methoden erkennen. Zwei Schriften, die elegant parlierenden Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) und die satirischen Träume eines Geistersehers (1766), vermitteln sogar den Eindruck, als wolle er sich von der Metaphysik überhaupt trennen; dieser Eindruck mußte sich bei den Zeitgenossen verstärken, als K. nach einer weiteren akademischen Pflichtarbeit, der 1770 (noch einmal lateinisch verfaßten) Dissertation »über Formen und Gründe der Sinnen- und Verstandeswelt« (De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis), elf Jahre lang gar nichts mehr publiziert. Im Rückblick läßt diese zweite Dissertation bereits den Ansatz des kritischen Denkens erkennen; Raum und Zeit werden als menschliche Anschauungsformen vorgestellt, die nicht zu den Dingen gehören, wie der Verstand sie begreift. Dem menschlichen Verstand traut K. zu diesem Zeitpunkt allerdings noch eine Erkenntnis zu, die das Wesen der Dinge ebenso begreift, wie wir es einem göttlichen Verstand zutrauen.
Die weitergehenden »kritischen« Einsichten der nachfolgenden Jahre nötigen K. zum Verzicht auf den Anspruch, das Wesen der Dinge erkennen zu können. Wie die »Dinge an sich« beschaffen sind, darüber läßt sich aus menschlicher Perspektive gar nichts sagen; »Dinge an sich«, so wie sie ein göttlicher Verstand erkennen könnte, sind für den Menschen nicht mehr als die Idee einer Substanz, die den von ihm erkannten Dingen zugrundeliegen könnte. Es hat noch nicht einmal Sinn, nach der Wirklichkeit der »Dinge an sich« zu fragen; schließlich sind sie als bloße Begriffe, von denen wir nicht wissen können, ob ihnen etwas entspricht, nur Ausdruck unserer Beschränkung. Das »Ding an sich« als Grenzbegriff kann aber davor bewahren, die menschliche Erkenntnis für absolut zu halten. Auch die reinen Verstandesoder Vernunftbegriffe haben keinen Zugang zu einer absoluten Wahrheit.
Damit bestreitet K. keineswegs die Möglichkeit von Erkenntnis; er ist kein Agnostizist. Aber er betont die Relativität des menschlichen Wissens; jede Erkenntnis, auch die der objektiven Naturwissenschaften, ist funktional auf die menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten bezogen. Wir erkennen die Wirklichkeit nur so, wie sie uns »erscheint«. Jede objektive Erkenntnis ist auf sinnliche Anschauung in Raum und Zeit angewiesen und bleibt insofern auf Erfahrung beschränkt. Ein Verzicht auf Erfahrung führt entweder zu analytischen Urteilen, die nur das ausdrücken, was ohnehin schon in den Begriffen steckt, oder er verleitet zur Spekulation, in der alle Sicherheit aufhört. Gleichwohl ist das spekulative Denken der »reinen Vernunft« nicht unfruchtbar: Unter Bedingungen disziplinierter Selbstkritik kann die reine Vernunft zur Anleitung und Ordnung des empirischen Wissens beitragen (»regulative Funktion«), sie kann dogmatische Ansprüche abwehren (»kritische Funktion«), und sie kann schließlich praktische Ziele setzen, wo sicheres Wissen ohnehin nicht möglich ist. In diesem Fall wird sie zur »praktischen Vernunft«.
Die Kritik der reinen Vernunft (1781), in der K. diese Einsichten systematisch entwickelt, findet zunächst wenig Beachtung. Aber als sie, erläutert durch die Prolegomena (1783), erweitert durch die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), 1787 in einer erweiterten zweiten Auflage erscheint, führt sie einen Klimawechsel herbei, wie ihn die Philosophie weder vorher noch nachher erlebt hat. K.s experimentalphilosophischer Vorschlag, bei der Begründung der Leistungen menschlicher Erkenntnis nicht länger vom Seinscharakter des Objekts, sondern von den Bedingungen des Subjekts auszugehen, wird als eine Revolution im Bereich der Wissenschaft verstanden. Daß die »ersten Grundsätze« des menschlichen Wissens nicht von den »Dingen an sich« abzulesen sind, sondern in den Erkenntnishandlungen selbst ihre Grundlage haben und erst durch die Tätigkeit des Menschen zum Fundament der Natur als »Erscheinung« werden, trifft mit dem gesteigerten Selbstbewußtsein des aufgeklärten Menschen bestens zusammen. Die Vernunftkritik erklärt den Menschen zum Urheber seiner Welt, ohne damit in Widerspruch zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu geraten und ohne den traditionellen Anspruch des Glaubens an einen göttlichen Ursprung anzutasten. Die Begrenzung des Wissens durch die Kritik soll zugleich dem Glauben einen genuinen Platz zuweisen. Gott und Welt, Freiheit und Person werden nunmehr als reine Vernunftbegriffe gedeutet; sie bezeichnen nichts Gegenständliches, sind aber für die begriffliche Selbstbestimmung des Menschen unerläßlich.
In der Kritik der praktischen Vernunft (1788) zeigt K., welche Folgen sein bei den vorgängigen (apriorischen) Leistungen des Menschen ansetzender Begründungsversuch für das praktische Handeln hat. Auch hier kann man nicht von einem vorgegebenen »Guten« oder »Bösen« in der Welt ausgehen, sondern hat den Anfang allein beim menschlichen Willen zu nehmen. Sofern sich dieser Wille als vernünftig begreift, bestimmt er aus sich heraus, was als moralisch gut gelten kann. Sein Prinzip ist damit die Selbstbestimmung (Autonomie) nach dem im Willen selbst liegenden Prinzip der praktischen Vernunft. Sofern sich der Mensch diesem Prinzip verpflichtet weiß (und dies weiß er immer schon dann, wenn er sich fragt, was er tun »soll«), versteht er sich auch als frei; er hat so die Möglichkeit, seine Handlungsgrundsätze (Maximen) nach seinen vernünftigen Einsichten zu richten und sich damit – im kategorischen Imperativ – der allgemeinen Selbstgesetzgebung der Vernunft zu unterstellen. Wie schon die kategorialen Elemente der Naturerkenntnis, kommt der kategorische Imperativ nicht von äußeren Instanzen her, sondern stammt allein aus dem Selbstverständnis des Menschen als vernünftigem Wesen.
In dieser kritischen Neubegründung der Ethik werden keine neuen Tugenden zur Pflicht gemacht; vielmehr werden die aus der platonischen, aristotelischen und stoischen Ethik überlieferten Prinzipien verschärften Vernunftkriterien unterworfen, über die das emanzipierte Individuum letztlich allein zu befinden hat. Die mit Sokrates erstmals zu philosophischem Bewußtsein gelangte Begründung des Verhaltens aus eigener Einsicht (und damit aus eigener Vernunft) kommt hier zu ihrer vollen begrifflichen Konsequenz. Die seit der Antike angestrebte Selbständigkeit der ethischen Selbstbestimmung findet, in Abgrenzung von der empirischen Erklärung, ihren auf das Individuum zugespitzten individuellen Ausdruck. Der »kategorische Imperativ« hat nur in bezug auf die »Maximen«, hat also nur für die »subjektiven Grundsätze« eines einzelnen Menschen Bedeutung. Dabei ist zu beachten, daß die Begründung sich stets nur auf die »Form«, also auf den begrifflichen Anteil eines moralischen Urteils bezieht. Der Begriff allein ist aber auch in der Ethik ohne Inhalt, ohne seine »Materie« bedeutungslos. Über die »Materie«, die zu jedem moralischen Urteil, folglich auch zu jeder sittlichen Handlung hinzukommen muß, sind somit stets auch »Neigungen« beteiligt. Also gehören die Gefühle und Leidenschaften notwendig zur sittlichen Welt des Menschen; letzlich muß es daher ein Gefühl sein, das den Impuls zur moralischen Handlung gibt. K. nennt es das »Gefühl der Achtung«. Nur legt er Wert darauf, die unerläßliche Motivierung des Tuns nicht mit dessen Begründung zu vermischen; die Begründung kann, wie schon bei Platon, nur aus einer vernünftigen Einsicht erfolgen. Und nur in dieser Einsicht erfährt sich der Mensch wirklich als frei.
K.s dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft von 1790, enthält im ersten Teil eine auch wieder nur von menschlichen Leistungen ausgehende Begründung der Ästhetik. Das ästhetische Urteil ist Ausdruck einer den ganzen Menschen lustvoll anregenden Übereinstimmung der Erkenntniskräfte; wo immer Sinnlichkeit und Vernunft in belebender, sich steigernder Weise zusammenspielen, da ist eine ästhetische Erfahrung möglich. Auch die ästhetische Erfahrung äußert sich in einem »Urteil«, in dem sich ein Individuum in seiner durch nichts eingeschränkten Subjektivität anderen Individuen mitteilt. K. setzt das ästhetische Urteil von allen Ansprüchen wissenschaftlicher Wahrheit, moralischer Wertung und bloßer sinnlicher Befriedigung frei. Im ästhetischen Erleben kommt alles auf die eigene selbst-autonome (»he-autonome«) Urteilskraft an. Da diese Urteilskraft in sich aber alle sinnlichen und geistigen Kräfte bindet, da sie in der Lage ist, eigene Lust hervorzurufen und darüberhinaus auf Mitteilung gegenüber Gleichgesinnten drängt, isoliert sie den Einzelmenschen keineswegs, sondern bringt ihn allererst in selbstbewußte Beziehung zu seinesgleichen.
Im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft entwirft K. eine Theorie der lebendigen Natur, über die der Mensch stets nach Analogie seiner Selbsterfahrung als tätiges Wesen urteilt; ein Organismus wird in seiner zweckmäßigen Funktionsweise angesehen, »als ob« in ihm ein zweckrationaler Wille wirke, den der Mensch freilich nur von sich selbst her kennt. K.s Theorie des Organismus versucht die dynamische Ganzheitlichkeit lebendiger Wesen zu fassen. Dabei nimmt er das Prinzip der kausalen Erklärung so weit wie nur irgend möglich zu Hilfe. So definiert er, daß sich die Teile des Organismus »dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind«. Ja, ein lebendiges Naturprodukt verhält »sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung«. Damit eröffnet K. den Zugang zu einer Theorie der »Selbstorganisation«, die im 20. Jahrhundert nicht nur im Bereich der Biologie, sondern auch der Physik und der Soziologie starke Aufmerksamkeit gefunden hat. Für die nachfolgende Philosophengeneration, insbesondere für Schelling und Hegel, enthält die dritte Kritik die wichtigste Anregung; sie aber wollen die von K. betonte subjektive Beschränkung ästhetischer und teleologischer Urteile im Rahmen einer umfassenden Objektivität der Natur oder des Geistes überwinden.
Nach Abschluß des »kritischen Geschäfts« geht der inzwischen hochbetagte K. daran, die fälligen systematischen Schlußfolgerungen für einzelne Gegenstandsbereiche zu ziehen. Er kommt dazu aber nur auf dem Gebiet des praktischen Handelns. Hier legt er gegen den Widerstand der preußischen Zensurbehörde die Konsequenzen für den religiösen Glauben dar (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793) und publiziert 1796/97 unter dem Titel Metaphysik der Sitten nicht nur eine »Tugendlehre« für das selbstverantwortliche Handeln des einzelnen, sondern auch eine Rechts- und Staatslehre, die zusammen mit der kleinen Schrift Zum ewigen Frieden (1795) direkten Einfluß auf die politische Urteilsbildung der Zeitgenossen gewinnt.
In der politischen Philosophie, zu der er auch noch, ebenso wie zur Theorie der Geschichte, zum Begriff des Menschen oder zum Verhältnis der Wissenschaften, in zahlreichen kleineren Schriften Stellung nimmt, stellt K. die Produktivität des von ihm entwickelten Prinzips kritischer Begründung unter Beweis. Er fügt den vorhandenen Staatskonstruktionen zwar kein neues Modell hinzu, entwickelt jedoch über die Konzeption des Rechts und unter der Idee eines Staatsvertrages ein neues Legitimitätsprinzip politischer Herrschaft. Er zeigt, wie sich unter allgemeinen Rechtsbedingungen, vermittelt über das Prinzip der Publizität, Moral und Politik verknüpfen lassen, ohne auseinander abgeleitet zu sein. Und er sieht wohl als erster, daß staatliches Handeln nicht allein aus Verbindlichkeiten gegenüber dem Bürger im Innenverhältnis begründet werden kann, sondern unter »weltbürgerliche« Maßstäbe zu stellen ist, die einer völkerrechtlichen Absicherung bedürfen. Aus dem bis dahin hauptsächlich religiös motivierten Gedanken einer europäisch-christlichen Friedensordnung macht K. ein weltpolitisches, auf rechtliche Institutionen gegründetes Konzept, auf das im 20. Jahrhundert bei der Gründung des Völkerbundes zurückgegriffen worden ist.
K.s Theorie des Weltfriedens ist eine politiktheoretische Innovation. Sie basiert auf einer historisch und ökonomisch fundierten Diagnose der Lage der Menschheit angesichts der vor dem Abschluß stehenden Kolonisierung der Erde. Kein politischer Ort auf dem Globus ist noch unabhängig von dem politischen Geschehen an einem beliebigen anderen Ort. Aufgrund der begrenzten Oberfläche der Erdkugel können die Menschen nicht länger voreinander ausweichen. Folglich kann der Krieg, dessen historische Leistung K. anerkennt, künftig kein Mittel der Politik mehr sein. Überdies hat die Französische Revolution gezeigt, daß der Freiheitsanspruch der Völker auch von sich aus in der Lage ist, die fälligen Fortschritte im Recht zu veranlassen. So gelangt K. zu einer umfassenden Konzeption von Recht, Moral und Politik auf der Basis des »Menschenrechts«. Das die Freiheit und Gleichheit aller Menschen sichernde Menschenrecht soll innerstaatlich durch republikanisch-repräsentative Verfassungen verbindlich gemacht und im äußeren Verhältnis der Staaten durch ein System von Verträgen gestützt werden. Mit dem »Weltbürgerrecht« wird der Kolonialpolitik ein Riegel vorgeschoben; zugleich aber hat jeder einzelne Bürger auch gegenüber anderen Staaten ein elementares Recht auf menschenwürdige Behandlung. Die Einzelstaaten bleiben als die unerläßlichen Einheiten gesellschaftlicher Selbstbestimmung erhalten, sind aber durch die Dynamik des sie selbst verpflichtenden Rechts im Inneren zu Reformen genötigt und im Außenverhältnis auf einen föderalen Bund angewiesen. In der Verbindung historischer und machtpolitischer, juridischer, moralischer und rhetorischer Elemente entwirft K. vor allem in der Schrift Zum ewigen Frieden eine den neuzeitlichen Handlungsbedingungen angemessene Theorie der Politik.
An der Vollendung seines Systems auch auf dem Feld der Naturphilosophie wird K. durch zahlreiche Verpflichtungen gehindert, die sich aus der breiten öffentlichen Debatte über sein Werk ergeben. Verstärkt durch die revolutionären Ereignisse in Frankreich erlebt Deutschland vor der Jahrhundertwende ein euphorisches Jahrzehnt der Kritik, und K. ist nicht nur den Ansprüchen einer wachsenden Schülerschaft, sondern auch einer sich rasch formierenden, vor allem theologisch motivierten Polemik ausgesetzt. In seinen nicht weniger polemischen Erwiderungen stellt K. noch einmal seine literarischen Fähigkeiten unter Beweis, die in den kritischen Hauptwerken sich allerdings nur dem entdecken, der in ihren schwierigen Gedankenzusammenhang eindringt.
1796 beendet K. seine Lehrtätigkeit; 1801, im Alter von 77 Jahren, wird er emeritiert. Seine ohnehin schwachen physischen Kräfte lassen rapide nach. Er nimmt kaum noch Einfluß auf die von seinen Schülern besorgte Edition seiner Vorlesungen über Anthropologie, Pädagogik, Logik und Geographie. Gleichwohl arbeitet er an der noch unvollendeten Naturphilosophie. Dabei geht er erneut auf die Voraussetzungen seiner Erkenntniskritik zurück und konzipiert eine Einheit von Mensch und Natur, die manche überraschenden Parallelen zu den Systemen Schellings und Hegels aufweist. Aber beim Schreiben schwinden seine Kräfte mitunter plötzlich. Die spekulativen Notizen brechen immer häufiger ab; unvermittelt mischen sich Bemerkungen über alltägliche Begebenheiten ein. Diese heute unter dem Titel Opus postumum gesammelten Texte dokumentieren, wie sich allmählich ein Körper seinem Geist versagt.
Die letzten Lebensjahre zeigen einen mit Würde ertragenen Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte. 1804 stirbt K. an Altersschwäche. Er hat, trotz ehrenvoller Angebote anderer Universitäten, Königsberg nie verlassen, hat aber stets an den Ereignissen in der Welt regen Anteil genommen. Er pflegte Umgang vornehmlich mit Kaufleuten, Verwaltungsbeamten und Offizieren, kannte die Reiseliteratur so gut, daß seine Zuhörer glauben konnten, er sei selbst auf Java, in Amerika oder zumindest in London gewesen. Nicht nur in seiner täglich bei ihm versammelten Tischgesellschaft, sondern auch öffentlich war er ein begeisterter Verfechter der Ideen der Französischen Revolution. Und nicht weniger als in seinen kritischen Hauptwerken tritt auch in seinen weitläufigen naturkundlichen, gesellschaftlichen und politischen Interessen als das treibende Motiv seines Philosophierens hervor: die Erkundung der Möglichkeiten und Grenzen des Menschen.
In seiner Logikvorlesung hat er mehrfach die »weltbürgerliche Bedeutung« der Philosophie in vier Fragen zusammengefaßt: 1. »Was kann ich wissen?« 2. »Was soll ich tun?« 3. »Was darf ich hoffen?« 4. »Was ist der Mensch?« Die erste Frage, so hat er erläuternd hinzugefügt, »beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie«. Die wahre Bedeutung dieses Fragenkatalogs wird aber erst erkennbar, wenn K. hinzufügt, daß die letzte Frage alle anderen umfaßt: »Im Grunde«, so heißt es abschließend, könne man Metaphysik, Moral und Religion »zur Anthropologie rechnen, weil sich die ersten drei Fragen auf die letzte beziehen«. So erscheint die Kritische Philosophie vor allem als eine umfassende Bestandsaufnahme der besten Kräfte des Menschen, und das sind die Kräfte der menschlichen Vernunft.
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Volker Gerhardt
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