Metzler Philosophen-Lexikon: Lukrez (d.i. Titus Lucretius Carus)
Geb. zwischen 99 und 94 v. Chr.;
gest. 55 v. Chr.
L. hat es als Aufgabe angesehen, seinen Landsleuten die Lehre Epikurs im Gewand der Dichtung nahezubringen. Die Poesie soll dabei als Honig dienen, den bitteren Saft des Wermuts der Philosophie schmackhaft zu machen. Das Leben des Dichters fällt in eine Zeit, in der Kriege und Bürgerunruhen an der Tagesordnung waren. Man denke nur an den Bundesgenossenkrieg, an den pontischen König Mithridates VI., der die Römer 25 Jahre in Atem gehalten hatte, an die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Marius und Sulla (mit ihren Proskriptionen), an den Sklavenaufstand unter Spartacus und an die Catilinarische Verschwörung. Es war Sitte geworden, politische Differenzen mit dem Schwert auszutragen und bewaffnete Banden mit Mord und Totschlag durch die Straßen Roms ziehen zu lassen. Angewidert von diesem Treiben, hielt sich L. – getreu der Maxime Epikurs: »Lebe im Verborgenen« – von Staatsgeschäften fern: »Süß ist es auch, die gewaltigen Kämpfe des Krieges zu beobachten ohne eigene Gefahr.« Am süßesten aber sei es, auf den Höhen der Philosophie zu wohnen und auf die anderen herabzublicken, wie sie sich um Reichtum und Macht im Staate stritten. Dazu paßt, daß für uns die ganze Persönlichkeit des Dichters in ein tiefes Dunkel gehüllt ist. Die antike Angabe, L. habe als Opfer eines Liebestranks seinen Verstand verloren, sein Gedicht in Pausen des Wahnsinns verfaßt und schließlich Selbstmord begangen, ist nichts anderes als schlechte christliche Polemik. Zuverlässiger scheint dagegen die Nachricht zu sein, daß nach dem vorzeitigen Tod des Dichters M. Tullius Cicero die Herausgabe des Werks besorgt hat.
In den Mittelpunkt seines Gedichts De rerum natura (Über die Natur der Dinge) hat L. die Physik gestellt, die jedoch letztlich (wie schon bei Epikur) auf ethischen Ertrag ausgerichtet ist. Ihr Wert liegt darin, daß sie den Menschen durch korrekte Naturbetrachtung von Götterfurcht und Todesangst, den beiden Grundübeln in dieser Welt, befreit und ihn so zum inneren Frieden führt. L.’ Kampf gegen die Religion zeigt eine Übersteigerung, die den Schriften des Meisters fremd ist und sich vielleicht mit dem dämonenfürchtigen Wesen der Römer zu dieser Zeit erklären läßt. Der Dichter unterscheidet nicht zwischen Glauben und Aberglauben, sondern zeichnet die »religio« als unheilvolle Macht schlechthin, die »mit schrecklicher Fratze auf die Menschen eindringt« und »schon öfter verbrecherische und gottlose Taten hervorgebracht hat« (z.B. die Opferung der Iphigenie in Aulis). Überschwenglich triumphiert in diesem Zusammenhang L., daß es Epikur gelungen ist, »die Religion niederzuwerfen und mit Füßen zu treten«.
Der Religion wird die wahre Einsicht gegenübergestellt, daß die Natur ausnahmslos ihrer eigenen Kausalität, d.h. den Gesetzen der Materie folgt. »Nichts entsteht jemals aus dem Nichts durch göttliche Fügung«, und »nichts löst sich in das Nichts auf«; denn die Natur bildet das Neue immer aus dem Alten. Die Materie existiert in Form kleiner (unsichtbarer) Partikel, die fest, ewig und unteilbar sind. Daneben gibt es nur noch das zur Bewegung der Atome notwendige Leere. Alles, was ist, ist aus diesen beiden verbunden oder ein Vorgang an ihnen. Die Atome haben Gewicht. Daraus resultiert, daß sie sich, sogar in den Atomverbindungen, in permanenter Bewegung befinden. Im luftleeren Raum des Alls fallen die Atome senkrecht nach unten, und zwar gleich schnell. Irgendwann und irgendwo werden aber einzelne Atome ein wenig zur Seite getrieben. Geschähe diese »Abweichung« (»clinamen«, »declinatio«) von den geraden Fallinien nicht, fänden keine Kollisionen statt, durch die die kosmogonischen Prozesse eintreten, und die Natur hätte nichts geschaffen. Den Menschen befähigt das »clinamen«, die Kausalkette der seelischen Atombewegungen zu durchbrechen, d.h. sein Verhalten selbst zu bestimmen. Aus der Mannigfaltigkeit der Welt schließt L., daß auch die Atome von verschiedener Gestalt sein müssen. Die verschiedenen Atomformen rufen die verschiedenen Wirkungen in den Sinneswahrnehmungen hervor. Die Atome selbst sind farb-, geruch-, geschmack- und empfindungslos, denn diese (sekundären) Qualitäten sind vergänglich und passen nicht zur Ewigkeit der Atome, nur in den Atomaggregaten der Körper werden sie existent. Die Götter haben an dem allen keinen Anteil. Sie genießen vielmehr fern von uns im tiefen Frieden ihr unsterbliches Wesen, »ohne sich durch frommen Dienst gewinnen oder durch Zorn leiten zu lassen«.
Eng mit der Götterfurcht ist die Furcht vor dem Tod verknüpft, »die das menschliche Leben zerrüttet und kein Vergnügen klar und rein gestattet«. Aus ihr erwächst auch eine unbegrenzte Gier nach Reichtum, Ehre und Macht. Wer diesem Verlangen nachgibt, kann sich eine Privation dieser Dinge nicht vorstellen, ohne dabei an den Tod zu denken. »Schimpfliche Geringachtung und bittere Armut scheinen mit einem süßen und gefestigten Leben unvereinbar zu sein und gewissermaßen schon vor den Toren des Todes zu weilen.« Die Seele ist atomistisch zu begreifen und als ein Teil des Körpers aufzufassen. Sie überlebt beim Tod den Körper nicht. Frohlockend stellt der Dichter fest: »Der Tod geht uns nichts an«, weil mit seinem Eintritt kein Subjekt mehr da sei, das fähig sei, zu empfinden. Die Liebe sieht L. grundsätzlich als ein negatives Phänomen an. Es liegt in ihrem Wesen, stets unbefriedigt zu bleiben. Sie beruht auf einer Illusion – der Illusion des Besitzes. Deshalb empfiehlt der Dichter, die Leidenschaft von der Liebe zu trennen und die eine Liebe durch eine Vielzahl von Lieben (»Venus vulgivaga«) zu heilen. Oberstes Ziel ist die vollkommene Lust, die Epikur Lust in der Ruhe nennt. Sie entsteht aus der Befreiung von seelischer Angst und körperlichem Schmerz. »Erkennt man denn nicht, daß die Natur nichts anderes erheischt als, bei Freisein von körperlicher Unlust, im Besitz geistiger Lustempfindung zu sein, gelöst von Sorge und Furcht? Wir sehen also, daß für die körperliche Natur nur weniges, eben das zur Beseitigung der Unlust Dienende, erforderlich ist.«
Sallmann, Klaus: Art. »Lucretius«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996 ff., Bd. 7, Sp. 472–476. – Clay, Diskin: Lucretius and Epicurus. Ithaca/New York 1983. – Boyancé, Pierre: Lucrèce et l’épicurisme. Paris 1963.
Klaus-Dieter Zacher
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