Metzler Philosophen-Lexikon: Ortega y Gasset, José
Geb. 9. 5. 1883 in Madrid;
gest. 18. 10. 1955 in Madrid
Er sei wie die Elster, welche niemals an der selben Stelle einen Schrei ausstoße, wo sie ihre Eier legt. Kaum einer hat die schillernde Persönlichkeit des spanischen Philosophen O. treffender gefaßt als der falangistische Schriftsteller Eduardo G. Caballero. Wenn noch heute, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod, O.s ideologische Haltung umstritten ist, so gilt dies nicht minder auch für seine philosophische Bedeutung. Während O.s Schüler zumeist überzeugt sind, die moderne Philosophie verdanke ihrem Meister neben der endgültigen Lösung des Dilemmas von Idealismus und Skeptizismus (im Perspektivismusˆ) sowie von Rationalismus und Lebensphilosophie (im Ratiovitalismusˆ) zugleich auch die Vorwegnahme des Existenzialismus (13 Jahre vor Heidegger), wollen kritischere Stimmen zwar die überragende Bedeutung des Lehrers, Vermittlers und Popularisierers O., nicht aber seine grundsätzliche philosophische Originalität anerkennen. – Die berechtigte Warnung, man solle die Persönlichkeit O.s nicht mit seiner Philosophie verwechseln, ist freilich bei einem Autor nur schwer zu befolgen, der das Denken als notwendige Vitalfunktion, als Form der Aneignung und Beeinflussung seiner unmittelbaren spanischen Lebenswelt (»circunstancia«) und nicht als Beitrag zu einer abstrakten philosophischen Kultur auffaßte. Die Bandbreite seines Denkens reicht, neben rein politischen Aufsätzen und Reden, von der Erkenntnistheorie über Ethik, Sozialphilosophie, Soziologie, Geschichtsschreibung und Völkerpsychologie bis hin zu Kunst-, Musik-und Literaturkritik. Oft aus Gelegenheitsarbeiten hervorgegangen, sind die meisten Schriften O.s von dem Widerspruch zwischen journalistischer Leichtigkeit und dem unverkennbaren Drang zum vereinheitlichenden System geprägt. Die von ihm, ganz im sokratischen Sinne, zum Programm erhobene »Rückführung des Buchs auf den Dialog« steht im Dienst einer pädagogischen Intention, welche nicht selten die plastische Darstellung des Gegenstandes mit dessen unzulässiger Simplifikation, die Vermittlung eines Gedankens mit dem Verzicht auf seine vertiefte Weiterentwicklung bezahlt und die Brillanz seines dynamischen Stils durch den Unterton der Belehrung zerstört. Denn seine eigentliche historische Funktion sah O. in der Herausführung der spanischen Kultur aus Isolation und Geschichtslosigkeit und in ihrer Anreicherung durch die europäische, zumal deutsche Philosophie. Diese Kulturvermittlung betrieb er mit größerer Sachkenntnis und Systematik als vor ihm die ebenfalls antitraditionalistisch und europäischˆ orientierten Vertreter des Krausismusˆ und der Generation von 1898ˆ. Sie gehörte zu einem nationalpädagogischen Programm, in dessen Dienst er seine beiden größten Leidenschaften zu stellen entschlossen war: die Philosophie und die Politik.
Der Verlegerdynastie der Gassets entstammend, studierte O. nach dem Besuch verschiedener Jesuitenschulen Philosophie an der Universität Madrid. Die entscheidende Weichenstellung in seinem Leben sollte ein mehrjähriger Studienaufenthalt in Deutschland werden, den er nach der Doktorprüfung 1904 antrat. Ein Semester in Leipzig bei Wilhelm Wundt, ein Semester in Berlin bei Georg Simmel und ein Jahr in Marburg, der »Zitadelle des Neukantianismus« mit ihrem »Kommandanten« Hermann Cohen, genügten dem jungen »Keltiberer«, um Deutschland zu seiner geistigen Heimat zu erklären. Die gründliche Erarbeitung der Kantschen Philosophie und zugleich die Skepsis gegenüber dem Versuch ihrer dogmatischen Wiederbelebung, die lebensphilosophischen und phänomenologischen Ansätze als mögliche Auswege waren die Themen, denen O. und seine Studienkollegen – Nicolai Hartmann, Heinz Heimsoeth – sich in ihren Marburger Diskussionen widmeten.
In seine Heimat kehrte er zunächst mit dem festen Entschluß zurück, von der deutschen Philosophie wohl systematische Strenge und Klarheit, nicht aber Abstraktheit und Utopismus zu übernehmen und – was er für die Bestimmung seiner Generation hielt – den philosophischen »Kontinent des Idealismus« für immer zu verlassen. Das Spannungsverhältnis zwischen deutscher idealistischer und spanischer scholastischer Tradition ist Gegenstand des ersten bedeutenden Werkes, das O., seit drei Jahren Inhaber des Lehrstuhls für Metaphysik an der Universität Madrid, im Jahre 1914 veröffentlichte. Die Meditaciones del Quijote (Meditationen des Don Quijote) sind poetisch gefärbte Fragmente, die ausgehend von unscheinbaren Phänomenen zu den zentralen Fragen der Erkenntnis vorstoßen und gleichsam nebenbei einige Grundthemen der O.schen Philosophie entwickeln. Der vielzitierte Satz: »Yo soy yo y mi circunstancia« (Ich bin ich und meine Umwelt), der die existentialistischeˆ Auffassung vom Leben als Auftrag ans Ich, sich selbst zu formen, indem es die Umwelt formt, im Kern enthält, wird wie viele andere Gedanken dieses Frühwerks in der Schrift El tema de nuestro tiempo (Die Aufgabe unserer Zeit) von 1923 weiterentwickelt. Dieser anspruchsvolle Titel ist von der Überzeugung diktiert, mit dem Perspektivismusˆ, der alle individuellen Blickrichtungen auf die Wahrheit als gleichermaßen gültig und einander komplementär betrachtet, den philosophischen Rahmen der Einsteinschen Relativitätstheorie geliefert zu haben. Durch die Prägung der »razón vital« sollte der Vernunftbegriff von Abstraktheit, der des Lebens von Irrationalität befreit werden. Die prinzipielle Schwäche dieser Schrift, durch die Darstellung eines Problems schon dessen Lösung zu suggerieren, haftet auch der umfangreicheren und systematischer aufgebauten Vorlesungsreihe Qué es filosofía? (1929; Was ist Philosophie?) an. Hier werden die Antagonismen der Philosophiegeschichte mit dramatischer Lebendigkeit evoziert und die Widerlegung des Idealismus als chirurgische Operation vorgeführt; der konstruktive Aspekt geht jedoch nicht wesentlich über die früheren Schriften hinaus.
Die philosophischen Arbeiten der 30er Jahre spiegeln dann die zunächst von Wilhelm Dilthey, dem für O. bedeutendsten Denker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, angeregte Hinwendung zur historischen Hermeneutik, die zur geschichtlichen Umformulierung seiner Anthropologie – statt »razón vital« lesen wir jetzt »razón histórica« – und zur Befassung mit geschichtsphilosophischen Entwürfen wie etwa demjenigen Arnold Toynbees führte. Die späteren, oft umfassenden historischen Studien gewidmeten Werke des Philosophen waren bereits vom Weltruhm des Zeitdiagnostikers und politischen Ideologen überschattet, als welcher O. noch heute in erster Linie gilt. Schon als junger Mann beanspruchte er eine bevorzugte Stellung als Intellektueller in der spanischen Politik, welche er sowohl parteipolitisch als auch durch theoretische Reflexion entscheidend beeinflußte. Seine Appelle – mochten sie nun auf die Überwindung der Restauration durch einen liberalen Sozialismus (Vieja y nueva política, 1914; Alte und neue Politik) oder auf die von ihm aktiv betriebene Republikgründung zielen – waren immer an die intellektuelle Elite des Landes gerichtet. Mit einem empörten: »Eso no es, eso no es!« (Das ist es nicht, das ist es nicht!) kommentierte der Cortes-Abgeordnete die zunehmende Einmischung der Massen in die von ihm »aristokratisch« intendierte Republik. Wer die historisch-politische Kampfschrift España invertebrada (Spanien ohne Rückgrat) von 1921 gelesen hatte, in welcher der Gesundheitszustandˆ einer Nation an ihrem Willen, einer Elite zu folgen und Krieg zu führen, abgelesen wird, der konnte sich nicht wundern, als O. 1930, auf dem Höhepunkt seines republikanischen Engagements, die Bibel der antidemokratischen Rechten vorlegte: La rebelión de las masas (Der Aufstand der Massen) beabsichtigte die Abrechnung mit dem modernen »Massenmenschen«, der durch seine Charaktereigenschaften – Egoismus, Trägheit, Fremdbestimmtheit – alle Lebensbereiche zu nivellieren drohe. Scheinbar moralisch-ästhetisch und nicht sozial definiert, erhält der »neue Typus« doch eindeutigen Klassencharakter. Einige fast prophetische Erkenntnisse über Tendenzen der spätkapitalistischen Gesellschaft, die jedoch allesamt dem »Massenmenschen« angelastet wurden, machten die Schrift zum Welterfolg und zum politischen Katechismus im Deutschland Adenauers.
Nach den Jahren des freiwilligen Exils, in denen er ein drittesˆ, neutrales Spanien repräsentiert und damit die westliche Politik der Nicht-Intervention legitimiert hatte, kehrte O. 1946 ins frankistische Madrid zurück, wo er seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm und bis zu seinem Tod fortführte. Von einigen katholischen Integralisten als mondänerˆ Philosoph angefeindet, wurde er doch insgesamt als Brückenkopf nach außen gern gesehen. Spanische Philosophie und Geisteswissenschaften verdankten ihm den Anschluß an Europa, spanische Literatur und Journalismus waren durch seinen sprachlichen Stil geprägt, die Machthaber aber teilten, wenn auch nicht in allen Aspekten, seine Vision des historischen Augenblicks.
Gray, Rockwell: The Imperative of Modernity. An Intellectual Biography of José Ortega y Gasset. Berkeley 1989. – Garagorri, Paolino: Introducción a Ortega. Madrid 1970. – Niedermayer, Franz: José Ortega y Gasset. Berlin 1959.
Hermann Dorowin
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.