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Metzler Philosophen-Lexikon: Sextus Empiricus

Geb. ca. 150; gest. ca. 250

»Wenn jemand sich der Untersuchung irgendeines Gegenstandes widmet, dann ist es natürlich, daß er am Ende das Gesuchte findet oder daß er behauptet, das Gesuchte sei unauffindbar, und seine Unerkennbarkeit eingesteht oder aber, daß er seine Untersuchung fortsetzt.« Mit diesem Satz beginnt S., über dessen Lebensumstände nichts bekannt ist und dessen Beiname lediglich seine Zugehörigkeit zur empirischen Ärzteschule bezeichnet, seine Grundzüge des Pyrrhonismus, die einzige überlieferte Summe der skeptischen Philosophie pyrrhonischer Prägung. »Daher sieht man leicht ein, daß es offenbar drei philosophische Hauptrichtungen gibt: die dogmatische (d.h. die der Aristoteliker, der Epikureer und der Stoiker), die (durch Kleitomachos und Karneades vertretene) akademische und die skeptische.« S. widmet sein Werk der Widerlegung der ersten beiden Richtungen und der Apologie des Skeptizismus, wobei er nicht nur die von den drei traditionellen Disziplinen der Philosophie – Logik, Physik und Ethik – erhobenen Ansprüche systematisch verwirft, sondern in seiner »negativen Enzyklopädie des Wissens« (H. Dörrie) auch zu einem vernichtenden Schlag gegen die sog. zyklischen, d.h. nichtphilosophischen, Wissenschaften Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astrologie und Musiktheorie ausholt.

Die theoretischen Grundlagen des Skeptizismus werden im ersten Buch der Hypotyposen gelegt. Sein Hauptmerkmal ist die Gegenüberstellung einander widersprechender sinnlicher oder geistiger Eindrücke, die aufgrund ihrer gleichen Stärke oder Gültigkeit zur völligen Urteilsenthaltung (»epochḗ«) führen müssen. Im Gegensatz zum Stoiker erkennt der Skeptiker kein Kriterium an, das ihm die theoretische Wahrheitserkenntnis erlaubte; dennoch teilt er auch die Auffassung des (skeptischen) Akademikers nicht, daß in letzter Konsequenz jegliches Handeln im praktischen Leben unmöglich sei. Die zur Urteilsenthaltung führende Methode liegt in den sog. skeptischen Wendungen (»trópoi«) begründet, die allesamt die Relativität der Sinneswahrnehmungen und die Unmöglichkeit der Beweisführung – und somit der gesicherten Erkenntnis – zum Inhalt haben. Die skeptische Haltung beruht auf der Hoffnung, daß man mit ihrer Hilfe zur seelischen Unerschüttertheit (»ataraxía«) hinsichtlich der von unserer Einschätzung (»dóxa«) abhängigen Dinge und zum maßvollen Empfinden (»metriopátheia«) gegenüber dem Unausweichlichen gelangen könne. Von Bedeutung ist, daß der Skeptiker also keineswegs das Glückˆ (»eudaimonía«), sondern vielmehr einen nur negativ definierbaren, aus der Befreiung von Sorgen und Aufregungen erwachsenen, illusions- und erwartungslosen Ruhezustand anstrebt. Dieser antimetaphysische Minimalismus entspricht einem Zug der Zeit: Für einen Großteil der denkenden und fühlenden Menschen der griechischsprechenden Welt waren seit dem Hellenismus das Leben und die Existenz so fragwürdig geworden, daß selbst ein eudämonistisch verstandenes Philosophenglück kaum mehr im Bereich des Möglichen zu liegen schien.

S.’ Werk war während des Mittelalters nahezu unbekannt; erst nachdem Henri II. Estienne im Jahr 1562 die erste lateinische Übersetzung der Hypotyposen und Gentian Hervet (1499–1584) im Jahr 1569 eine (ebenfalls lateinische) Übersetzung der opera omnia veröffentlicht hatten, sollte sein Denken wieder Eingang in die europäische Philosophie finden. Sein berühmtester geistiger Nachfahre ist zweifellos Montaigne; gegen diesen, und also gegen S., bezeichnete Pascal das »pyrrhonische Kesseltreiben« als »zweifelhafte Zweifelhaftigkeit« und »fragwürdiges Dunkel«. Rabelais verspottete die skeptische »epochḗ« in einem grotesken Dialog über Wert und Unwert der Ehe, während Descartes im hyperbolischen Skeptizismus, der ihm die erste Gewißheit des »cogito« lieferte, den Ausgangspunkt seiner Philosophie fand.

Annas, Julia/Barnes, Jonathan (Hg.): Sextus Empiricus: Outlines of Scepticism. Cambridge 2000. – Vogt, Katja Maria: Skepsis und Lebenspraxis. München 1998. – Fredl, Michael: Art. »Sextus Empiricus«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 12,2, Sp. 1104–1106. – Barnes, Jonathan: The Toils of Scepticism. Cambridge 1990. – Annas, Julia/Barnes, Jonathan: The Modes of Scepticism. Cambridge 1985. – Popkin, Richard Henri: The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza. Berkeley, Cal. 1979. – Brochard, Victor: Les sceptiques grecs. Paris 21923.

Luc Deitz

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