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Metzler Philosophen-Lexikon: Thales von Milet

Geb. ca. 624 v. Chr. in Milet;

gest. ca. 547 v. Chr.

Th., so läßt Platon den Sokrates im Theaitetos berichten, sei, als er in astronomische Überlegungen versunken gewesen sei und dabei nach oben geblickt habe, in eine Zisterne gefallen. Da habe eine Magd im Spott zu ihm gesagt, daß er sich zwar darum bemühe, die Dinge des Himmels zu erkunden, das dagegen, was vor den Füßen liege, nicht bemerke. In der Politik des Aristoteles findet man folgende Geschichte: Die Mitbürger hätten Th. wegen seiner Armut Vorwürfe gemacht und immer wieder vorgebracht, daß Philosophie zu nichts nütze sei. Th. habe jedoch aus seiner Kenntnis der Astronomie vorausgesehen, daß eine reiche Olivenernte zu erwarten sei, und habe deshalb schon im Winter gegen eine geringe Summe sämtliche Ölmühlen im Gebiet von Milet und Chios gepachtet. Zur Zeit der Ernte, als viele sich um diese Mühlen beworben hätten, habe er sie untervermietet, dadurch sehr viel Geld verdient und gleichzeitig bewiesen, daß es für einen Philosophen äußerst leicht sei, zu Reichtum zu kommen, wenn er nur wolle; es sei jedoch nicht Reichtum, worauf ein Philosoph es abgesehen habe. Die Anekdoten spiegeln die zwei Hauptaspekte wider, die die spätere Tradition mit dem Archegeten der griechischen Philosophie verband: Einerseits sah man in ihm den weltfremden Theoretiker, der versuchte, mit seinem Verstand die Gesetze der Natur zu durchdringen und die Vielzahl der Phänomene auf eine Ursubstanz, das Wasser, zurückzuführen, andererseits den Praktiker, der seinen Verstand und sein Wissen, seine »sophía«, dazu einsetzte, im täglichen Leben Erfolg zu haben.

Diese Verbindung von Theorie und Praxis, die die antike Philosophiegeschichte Th. zuschrieb und die ihren Niederschlag in einer Vielzahl von Anekdoten fand, besonders jedoch in der Tatsache, daß man Th. zur Gruppe der »Sieben Weisen« zählte, hat ihre Wurzeln in den Aktivitäten des Th. So berichtet der Historiker Herodot, Th. habe die Sonnenfinsternis, die im sechsten Jahr des Kriegs zwischen den Lydern und Medern stattfand, den Bürgern seiner Heimat Milet vorausgesagt, und liefert damit das einzige sichere Datum aus Th.’ Leben, den 28. 5. 585 v. Chr. Die Voraussage dieser Sonnenfinsternis, seine Aussage, das Urelement sei das Wasser, auf dem die Erde liege, sowie die astronomischen und mathematischen Kenntnisse, die Th. zugeschrieben werden, weisen darauf hin, daß Th. Beziehungen zur babylonischen und ägyptischen Gelehrsamkeit hatte. Welche Aussagen jedoch Th. tatsächlich gemacht hat, insbesondere, welche mathematischen Sätze (»Satz des Thales«) auf ihn zurückgehen, läßt sich bei den zahlreichen Anekdoten, die sich um seine Person ranken, und besonders aufgrund der Tendenz der antiken Philosophiehistoriker, für jedes Theorem, für jede wissenschaftliche Erkenntnis einen »Erfinder« anzusetzen, letzten Endes nicht klären. Erschwerend kommt hinzu, daß auch Aristoteles und seine Schule (vor allem Theophrast) sich bei der Rekonstruktion von Th.’ Lehreˆ nicht auf eine Schrift des Milesiers – Th. hat nichts Schriftliches hinterlassen –, sondern nur auf die mündliche Überlieferung stützen konnten. Hinter dem dichten Schleier der Tradition zeichnen sich jedoch die Umrisse einer Gestalt ab, die die Vorgänge in der Natur und die Vielzahl der Phänomene nicht mit Hilfe des Mythos und der Götter, sondern durch die rationale Begründung, den Logos, zu erklären versuchte und die wegen dieses Bruchs mit den althergebrachten Denk- und Erklärungsweisen zu Recht als der Archeget der griechischen und damit europäischen Philosophie bezeichnet wird.

Betegh, Gábor: Art. »Thales«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 12,1, Sp. 236–238. – Kirk, Geoffrey S./Raven, John E./Schofield, Malcolm: Die vorsokratischen Philosophen. Stuttgart/Weimar 1994, S. 84–108. – Fränkel, Hermann: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. München 31969, S. 289–299. – Guthrie, W. K. C.: A History of Greek Philosophy, Bd. 1. Cambridge 1962, S. 45–71.

Bernhard Zimmermann

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