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Metzler Lexikon Philosophie: Bürger

ursprünglich von Burg oder Burgus, dem in der Vorburg gelegenen Wohnsitz der Kaufleute, bezeichnet heute den vollberechtigten Einwohner einer Gemeinde als politisches Subjekt. Die meisten europäischen Nationalsprachen unterscheiden das Mitglied des öffentlich politischen Bereiches, den polites, civis, citizen, citoyen, von dem Angehörigen der häuslichprivaten oder ökonomischen Sphäre, dem bourgeois. Der deutsche B.-Begriff kennt diese Trennung nicht und umfasst in historischer Tradition neben der politischen auch eine ökonomische, soziale und kulturelle Bedeutungsebene.

(1) In politischer Perspektive ist B. der Rechtstitel für ein freies, privilegiertes politisches Subjekt. In der Antike galt der B. als Gleicher unter Gleichen, der durch die Teilhabe an politischen Rechten und Pflichten abwechselnd sowohl regierte als auch regiert wurde (Aristoteles). Der Kreis der B. war zunächst klein und beschränkt, dehnte sich aber während des römischen Imperiums auf immer größere Teile der Einwohner aus und verlor zugleich an politischer Bedeutung. In der Spätantike erhielt der Begriff eine für das MA. bestimmende eschatologische Wendung zur Gottesbürgerschaft (Augustinus), wodurch die Qualifikation zum B. durch den Bezug auf »wahre Gerechtigkeit« dem Bereich des Weltlichen entzogen wurde. Die spätmittelalterliche Trennung von B.- und Kirchenrecht und die Rückbesinnung auf römisch-republikanische Werte führten zunehmend zu Rechtsfähigkeit und politischem Einfluss der B., jedoch ohne ihnen politische Mitbestimmung zu bringen. Die Auswirkungen der konfessionellen B.-Kriege der Neuzeit führten über die absolutistische Staatstheorie zur Unterwerfung der B. unter die souveräne Obrigkeit. Der so entstandene einheitliche Untertanenverband leitete die Entstehung des modernen Bürgertums ein, differenzierte aber noch ungenügend zwischen dem B. als Staatsuntertan, Einwohner oder Mitglied des dritten Standes. Hier setzte die Kritik der Aufklärung an und führte zur Trennung von bourgeois und Citoyen sowie zur Verknüpfung von B.- und Menschenrechten, die dann in der Französischen Revolution die Bestimmung der Nation als Zusammenschluss aller freien und gleichen Staats-B.(citoyen) ermöglichte. Zwar wurde die passive Rechtsgleichheit aller B. als Untertanen durch die aktive politische Mitwirkungsmöglichkeit ersetzt, doch blieb die Kontroverse um die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft bis heute bestehen. – (2) Die ökonomische Bedeutung des B.-Begriffs wurzelt in der antiken Bedingung der Möglichkeit politischer Mündigkeit durch Autarkie (Fähigkeit zur Selbsterhaltung), wobei die strikte Trennung von Polis (Staat) und Oikos (Hauswirtschaft) den B. nur im öffentlich-politischen Raum ansiedelte. Im MA. entwickelte der Zusammenschluss genossenschaftlich organisierter Verbände freier Männer eine neue Species der B., die als Kaufleute oder Handwerker den adeligen Grundherren entgegentrat und neben den Bauern den dritten Stand bildeten. Das unternehmerische Bürgertum machte die Rationalität zum Prinzip der ökonomischen Planung, sprengte dadurch den begrenzten Lebensraum der Stadtgemeinden und gewann im Rahmen seiner ökonomischen Ressourcen politischen Einfluss. Die Entwicklung der absolutistischen Staats-und Gesellschaftsordnung stärkte durch eine zentral gelenkte Wirtschaft (Merkantilismus) und die Schaffung eines einheitlichen Marktes die Position des Bürgertums, dessen Mitglieder den Adel zunehmend aus der ökonomischen und politischen Führungsrolle verdrängten und sich als Eigentümer von den besitzlosen Proletariern abgrenzten. – Dies führt (3) zur sozialen Bedeutung des B.-Begriffs. Das Bürgertum war nie eine homogene Gruppe oder Klasse, sondern bestimmte sich negativ: in der Antike gegen die Unfreien und Sklaven, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gegen Adel, Klerus und Bauern und schließlich gegen die besitzlosen Proletarier. Seit der Aufklärung treten die B. als soziale Gruppe eines gemeinschaftlichen Emanzipationsprozesses und gleichen Bildungshorizonts auf. Sowohl der Adel als auch später das Proletariat sehen im B. einen negativen Wertbegriff. – (4) Kulturell trat das Bildungsbürgertum und die mäzenatische Funktion der Besitz-B. neben die aristokratisch-klerikale Kultur, indem sich Freiheit und Toleranz als universaler Anspruch des neuzeitlichen Humanismus durchsetzten. Die moderne arbeitsteilige Dienstleistungsgesellschaft lässt die kulturelle, ökonomische und soziale Dimension des B.-Begriffs zugunsten einer Rehabilitierung des politischen Aspekts zurücktreten (Sternberger).

Literatur:

  • W. Meschke: Das Wort Bürger. Geschichte seiner Wandlung in Bedeutungs- und Wortgehalt. Greifswald 1952
  • M. Riedel: »Bürger«. In: HWPh. Bd. 1. Basel/Stuttgart 1970. S. 962 ff
  • Ders.: »Bürger, Staatsbürger, Bürgertum«. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1978. S. 672 ff
  • D. Sternberger: Ich wünschte ein Bürger zu sein. Frankfurt 1967
  • P.-L. Weinacht: »Staatsbürger«. Zur Geschichte und Kritik eines politischen Begriffs. In: Der Staat 8 (1969). S. 41 ff.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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