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Metzler Lexikon Philosophie: Dialog

Seit Sokrates und Platon ist dialogos die Entwicklung einer Meinung zur Wahrheit. Bei den Begründern des D.s geschieht das nach der folgenden zugrundeliegenden Zielbestimmung: Was in der Realität vorgefunden wurde, eröffnete sich allererst dem einzelnen Betrachter. Er konnte allerdings nie sicher sein, ob seine auf das Wahrgenommene bezogene Äußerung lediglich eine bloße Meinung oder eine wahre Aussage war. Die Überprüfung hatte daher im D. zu geschehen. Der Proponent machte eine Aussage. Der Opponent konnte diese Aussage anzweifeln, indem er Einwände formulierte. Dieser argumentative Prozess musste so lange weitergeführt werden, bis keine Einwände mehr vorgebracht wurden. Niemals allerdings konnte man sicher sein, ob nicht später jemand weitere Einwände formulieren würde. – Neben der sachlichexplikativen Klärung eines Begriffs hatte der sokratisch-platonische D. ein weiteres Ziel. Während die Sophisten ihre eigene Meinung durchzusetzen strebten, indem sie geschickt redeten und somit über-redeten, kam es Sokrates auf die Bildung einer moralischen Haltung im theoretischen D. an. Die Menschen sollten fähig werden, mit anderen zu kommunizieren und ihre eigene Meinung zu korrigieren. Dialogprinzip ist also die Anerkennung der Gleichwertigkeit und das Ernstnehmen aller Gesprächspartner. – Platon bemängelt an der Schriftform vor allem das darin fehlende Zusammenfallen von praktischem und theoretischem Wissen, das die Teilnahme am D. herbeiführen könne. Die Erfindung der Schriftform »wird bei den Seelen der Lernenden ... Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden« (Phaidon 274 a). Eine weitere Schwäche sei die Inflexibilität der Schriftform gegenüber einer anderen Stärke der dialogischen Wahrheitssuche, denn zur Wahrheitssuche gehöre das »Durchgehen nach allen Richtungen und ohne dieses Hin und Her [ist es] unmöglich…, auf das Wahre zu kommen und Einsicht zu erwerben« (Parmenides 136 e). Dieses Durchgehen sei ein »verweilendes Durchgehen« (Der siebte Brief 343 e), das der Gelassenheit und Muße und der immer wieder neu ansetzenden Überlegungen bedürfe. Dies könne nicht mit schriftlich festgelegten Formulierungen erzielt werden. Bei der Schriftform fehle auch die Möglichkeit der »wohlmeinenden Widerlegungsversuche … im Fragen und Antworten« (ebd. 344 b) einer Meinung oder eines gemeinsam gefundenen Ergebnisses. Aus den genannten Kritikpunkten folgert Platon, dass die Schriftform die unangemessene Form sei, wenn es um »ernstzunehmende Dinge« gehe (ebd. 344 c). Vielleicht hat Platon gerade wegen seiner Kritik an der Schriftform die Dialogform für seine schriftliche Darstellung gewählt. Aber auch die sogenannten »Aussparungsstellen«, an denen Platon seinen Lesern sagt, dass weitere Untersuchungen unerlässlich seien, hier und jetzt aber nicht durchgeführt werden könnten, weisen darauf hin, dass Platon so die Mängel seiner schriftlichen Darstellung abmildern wollte. – Dieses argumentative Gespräch war für Wilhelm von Humboldt Grundlage des menschlichen Denkens überhaupt. »Der Mensch spricht sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren« (Ges. Schriften in 17 Bden. Berlin 1903–1936. Bd. VI. S. 25). Wir können nach Humboldt also gar nicht anders als in sprachlich-argumentativer Weise denken. Und: »Zwischen Denkkraft und Denkkraft … giebt es keine andere Vermittlerin, als die Sprache« (ebd. S. 26). Sprache ist nun einmal ein Verhältnis zwischen mindestens zwei Menschen: »Die Sprache muss nothwendig … zweien angehören« (ebd. S. 180) oder »die Sprache richtet ferner den in Worte gefassten Gedanken immer an einen Andren, äusserlich wirklich vorhandnen oder im Geiste gedachten« (ebd. S. 346). Der Mensch führt also auch in Gedanken stets einen D. Schnädelbach schließt daran an, wenn er meint, dass philosophisches Denken als Reflexion immer dialogisch ist. »In der Reflexion, d.h. dem Denken des Denkens, dem Nachdenken über das Gedachte, der Thematisierung unserer Thematisierungsweisen usf., übernimmt man stets abwechselnd die Rolle von Proponent und Opponent; man macht sich selbst Einwände, um sie nach Möglichkeit zu entkräften oder seine Überzeugungen mit Gründen zu ändern« (1989, S. 24). – Die Diskursphilosophie von Apel und Habermas schließt in der Gegenwart an diese Einsichten von Sokrates, Platon und von Humboldt an. Im Diskurs soll der Wahrheitsanspruch einer Aussage über etwas in der objektiven Welt oder der Richtigkeitsanspruch einer Aussage über etwas in der sozialen Welt dialogisch eingelöst werden. Die Voraussetzung für eine dialogische Überprüfung von Geltungsansprüchen ist etwas, was man immer schon unbewusst anerkennt. Es handelt sich dabei um eine ganze Reihe von Unterstellungen, ohne die eine dialogische Handlung sinnlos wäre, z.B. dass das in einer Aussage Enthaltene wahr oder richtig ist, dass man also mit jeder Aussage auch einen Geltungsanspruch erhebt. Man geht weiterhin wie selbstverständlich davon aus, dass man jemanden überzeugen und sich jemandem verständlich machen will. Wenn man also überhaupt in einen solchen D. eintritt, dann anerkennt man den anderen als gleichberechtigten, wahrheits- und zurechnungsfähigen Argumentationspartner. Die Letztbegründung für so zu findende und gefundene wahre oder richtige Aussagen ist die wechselseitige Anerkennung von Menschen als gleichberechtigte Diskussionspartner. Dialogprinzipien sind hier, wie auch schon in der Antike, Gleichheit und Solidarität. Allerdings unterscheidet sich der D. im linguistischen Paradigma von dem im metaphysisch-ontologischen von Sokrates und Platon: »Im metaphysischen Diskurs wird die Sicherung der Intersubjektivität im Gegenstandsbezug gesucht, während der kritische Diskurs den Gegenstandsbezug durch Thematisierung der Intersubjektivität zu garantieren versucht; für den Metaphysiker gründet der diskursive Konsens in der Objektivität, für den kritischen Philosophen gründet die Objektivität im Konsens« (Schnädelbach 1989, S. 25). – M. Buber hat in seinem Hauptwerk Ich und Du (Leipzig 1923) eine Konzeption vorgeschlagen, die den D. über das Sprachliche hinaus erweitert. Er ist der Auffassung, dass menschliche Zwiesprache ohne das sprachliche Zeichen geführt werden könne. Er nennt drei Möglichkeiten: Beobachtung, Betrachtung und Innewerdung. Voraussetzung dafür ist die gegenseitige Hinwendung nicht nur zum vom Gesprächspartner Geäußerten, sondern dazu müsse man den Partner als Menschen annehmen und gegenseitiges Vertrauen haben. So könne auch ein schweigender D. geführt werden. Man solle seinem Mitmenschen danken, »selbst wenn er nichts Besonderes für einen getan hat. Wofür denn? Dafür, dass er mir, wenn er mir begegnete, wirklich begegnet ist; dass er die Augen auftat und mich mit keinem anderen verwechselte: dass er die Ohren auftat und zuverlässig vernahm, was ich ihm zu sagen hatte; ja, dass er das auftat, was ich recht eigentlich anredete, das wohlverschlossene Herz« (Nachlese. Heidelberg 1965. S. 254). Buber verstand seine Dialogphilosophie als Vermittlung zwischen der Aporie von Individuum und Gemeinschaft. Sie sollte vermitteln zwischen Individualität und Verantwortung für die Gemeinschaft. In ausdrücklicher Abgrenzung zum Deutschen Idealismus sah er nicht Einheit, sondern Beziehung als Weltgesetz.

Literatur:

  • K.-O. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt 1973. S. 358–435
  • D. Horster: Jürgen Habermas. Stuttgart 1991. S. 53–79
  • W. von Humboldt: Schriften zur Sprache. Stuttgart 1973
  • C. Schildknecht: Platon oder die dialogische Form der Philosophie. In: Dies.: Philosophische Masken. Stuttgart 1990. S. 22–53
  • H. Schnädelbach: Reflexion und Diskurs. Frankfurt 1977
  • Ders.: Zum Verhältnis von Diskurswandel und Paradigmenwechsel in der Geschichte der Philosophie. In: D. Krohn u.a.: Das Sokratische Gespräch. Hamburg 1989. S. 21–31
  • T. A. Szlezák: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: G. Gabriel/C. Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990. S. 40–61
  • S. Wolf: Martin Buber zur Einführung. Hamburg 1992. S. 147–163.

DH

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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