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Metzler Lexikon Philosophie: Diskurstheorie, Diskursethik

Die D.th. basiert auf der Annahme, dass auf der Grundlage von Verfahrensregeln auf eine rationale Weise über die Geltungsansprüche der Wahrheit (von Aussagen) und der Richtigkeit (von Handlungsregeln) befunden werden kann. Als Verfahrensregeln werden Regeln einer rationalen Argumentation bzw. Diskursregeln angeführt. Ihren besonderen Stellenwert erhält die D.th. aufgrund ihres Anspruchs, eine Möglichkeit rationaler Begründung für normative Gehalte bzw. die Möglichkeit einer rationalen und konsensuellen Lösung für strittige Fragen der moralischen Beurteilung darzustellen. Von D.ethik ist in dem Sinne die Rede, als moralische Urteile diskurstheoretisch begründet werden. Als Begründungsebene wird die formale Rationalität einer Argumentationsprozedur angegeben. Die Beschränkung auf eine formale Rationalität resultiert aus der Einsicht, dass im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung der verbindliche Kontext einer sozialkulturellen Lebenswelt seine fraglose Gültigkeit verloren hat, so dass ein Konfliktfall nicht mehr durch Verweis auf überlieferte Traditionen oder übergeordnete Autoritäten als begründender Instanz für Normen gelöst werden kann. Angesichts der Vielfalt der inhaltlichen Vorstellungen von richtiger oder falscher Lebensweise in einer pluralistischen Gesellschaft haben solche Vorstellungen immer den Charakter partikulärer Interessen. Formale Rationalität besagt, dass in einem Diskurs über die Geltung oder Akzeptanz von Normen die Bedingungen rationalen Argumentierens erfüllt sind. Solche Bedingungen lassen sich in einem System von Diskursregeln zusammenfassen, die zum Teil allgemeine Rationalitätsanforderungen wie Widerspruchsfreiheit, Konsistenz im Gebrauch von Prädikaten, sprachliche Verständlichkeit, zum anderen Teil Regeln der Unparteilichkeit des Diskurses darstellen: (1) Jeder darf an Diskursen teilnehmen, (2) jeder darf jede Behauptung in Frage stellen bzw. in den Diskurs einbringen, seine Einstellungen, Bedürfnisse und Wünsche äußern, (3) kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, die genannten Rechte wahrzunehmen. Diese Verfahrensregeln stellen zum einen die unabdingbare Voraussetzung dafür dar, dass aufgrund der gleichen Anerkennung aller einzig das bessere Argument die Grundlage der Einigung abgeben kann, zum anderen artikulieren sie mit den Eingangsbedingungen für einen rationalen Diskurs gleichzeitig die normativen Voraussetzungen dafür, dass die Übernahme des erzielten Einigungsergebnisses auch aus der Sichtweise eines jeden Teilnehmers als rational gelten kann. In den Verfahrensregeln sind die Postulate der Freiheit und Gleichheit, der Autonomie und Universalität enthalten. Aus der Forderung für die Argumentationsprozedur, dass jeder Teilnehmer auf der Grundlage von Argumenten frei und gleich über die Akzeptanz von Normen entscheiden können muss, ergibt sich ein Begründungskriterium der allgemeinen Zustimmung. Der Maßstab der prozeduralen Rationalität ergibt sich aus der notwendigen Beziehung, die zwischen der universalen Zustimmung unter idealen Bedingungen (der freien und gleichen Argumentationsrechte), den Begriffen der Richtigkeit und der moralischen Geltung besteht. D.h. als richtig und damit gültig sind genau die Normen anzusehen, die in einem idealen Diskurs von jedem als richtig beurteilt werden können.

Für Habermas knüpft die D.ethik an der lebensweltlichen Erfahrung an. Denn die moralisch strittigen Fragen treten in deren Rahmen auf und werden nicht erst durch die philosophische Reflexion hervorgerufen. Im Alltag verbinden wir mit normativen Aussagen einerseits den Anspruch, richtige Gebote und Normen von falschen unterscheiden zu können, und andererseits den Anspruch, diese gegen Kritik verteidigen zu können. Die grundlegende Struktur stellt die Interaktionsform des kommunikativen Handelns dar, in dem die Handelnden ihre Handlungspläne einvernehmlich koordinieren. Das gegenseitige Einverständnis bemisst sich an der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen, die in jeder Sprechhandlung und jedem Prozess der Verständigung enthalten sind. Jeder Akt der Verständigung beinhaltet, (1) dass der Sprecher eine wahre Aussage (über reale Sachverhalte) machen will, (2) dass die Intention seiner Aussage auch so gemeint ist, wie er es dem Hörer zu verstehen gibt (Wahrhaftigkeit), und (3) dass die Verständigung über die anerkannten Formen interpersonaler Beziehung vollzogen wird (normative Richtigkeit). Aufgrund dieser Geltungsansprüche wird im kommunikativen Handeln der andere zu einer Anschlusshandlung rational motiviert. In den Geltungsansprüchen sieht Habermas die Gewähr für eine Koordination, da der Sprecher darin eine Bereitschaft artikuliert, die Ansprüche auf eine Aufforderung hin auch einzulösen: den Anspruch der Wahrhaftigkeit dadurch, dass er sich im weiteren Verlauf entsprechend seiner Äußerung verhält, die Ansprüche der Wahrheit und der normativen Richtigkeit durch Benennung der Erfahrungsquelle bzw. der Gründe. Aus dem Anspruch der normativen Richtigkeit entwickelt sich die Aufgabe der D.ethik. Wenn Normen fragwürdig geworden sind, besteht das Erfordernis, ihre Gültigkeit durch Angabe von Gründen auszuweisen, denn nur solche Normen sind anerkennungswürdig, deren Geltungsanspruch mit Gründen eingelöst werden kann. Indem die Beteiligten in einen moralischen Diskurs eintreten, setzen sie das kommunikative Handeln mit dem Ziel fort, den gestörten Konsens wieder herzustellen. Die moralische Argumentation dient der konsensuellen Beilegung von Handlungskonflikten. Unterstellt wird dabei, dass trotz des zunächst gestörten Einverständnisses der gemeinsame Wille zur konsensuellen Lösung weiterbesteht. Charakteristisch für die D.ethik ist zum einen die Forderung, dass die Konsenssuche als reale Argumentation der Betroffenen durchzuführen ist und zum anderen, dass sich der Diskurs an den Maßstäben einer rationalen Argumentation zu orientieren hat. Diese Kriterien werden in den allgemeinen Diskursregeln genannt, die Habermas nach drei Gesichtspunkten unterteilt: Die logische Ebene der Regel betrifft die Widerspruchsfreiheit und Konsistenz hinsichtlich der Beurteilung von Situationen. Die prozedurale Ebene betrifft die Voraussetzungen für Verständigungsverhältnisse, nämlich die Anerkennung der Zurechnungsfähigkeit und der Wahrhaftigkeit der Teilnehmer. Die Prozessebene betrifft den Kommunikationsvorgang, nämlich freie Teilnahme und freie Meinungsäußerung für alle. Diese Kriterien stellen unausweichliche Annahmen für jede Argumentation dar, so dass auch derjenige, der die Geltung von Normen in Zweifel zieht, diese Annahmen (für seinen begründeten Zweifel) anerkannt haben muss. Aus den Diskursregeln kann der allgemeine diskursethische Grundsatz abgeleitet werden, dass nur die Normen Geltung beanspruchen können, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (könnten). Die Verfahrensregeln sind nur insofern normativ gehaltvoll, als in ihnen der Grundsatz der Verallgemeinerung enthalten ist. Diesem Grundsatz entspricht das Moralprinzip, dass eine strittige Norm nur dann die Zustimmung finden kann, wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.

Literatur:

  • R. Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. Frankfurt 1978. S. 51 ff
  • Ders.: Recht, Vernunft, Diskurs. Frankfurt 1995. S. 109 ff
  • J. Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 1983. S. 53 ff.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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