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Metzler Lexikon Philosophie: Leib, Leiblichkeit

Etymologisch mit »leben« zusammenhängend, wird der tierische und menschliche L. als lebendiger vom Körper unterschieden. Von der sinnlichen Erfahrung dieses Unterschieds im Übergang des Sterbens aus dürfte sich die Vorstellung einer im Tod sich vom L. lösenden Seele entwickelt haben, so dass die geläufige Bestimmung des L.es als beseelter Körper nicht im Sinne einer Zusammensetzung zu verstehen ist. Diesem Umstand versuchen die aristotelischen und ma.en Konzeptionen von Materie und Form (Form/Materie) gerecht zu werden. Während die Begriffe L. und Seele ihre gleichzeitige unauflösbare Verknüpfung beinhalten, stehen Körper und Geist für voneinander unabhängige Bereiche. Da die sprachliche Differenzierung zwischen L. und Körper dem Deutschen eigentümlich ist, werden diese Verhältnisse in anderen Sprachen nur durch die Zuordnung von Seele bzw. Geist deutlich. Mit der Trennung zwischen ausgedehnter und denkender Substanz bei Descartes, bei der die Lebensfunktionen vollständig der Ersteren zugeordnet sind, werden L./Körper und Seele/Geist zu Synonymen; der L. wird als »Automat« betrachtet und durch die Gesetzmäßigkeiten der Körperwelt erklärt. Dadurch erhält das Leib-Seele-Problem erst seine eigentliche Schärfe. Andererseits wird in der Folgezeit mit dem bewusstseins-philosophischen Ansatz auch die ältere Frage nach der Bedingtheit des menschlichen Erkennens durch den L. wieder aktuell und damit die Zuordnung des L.es zur bloß materiellen Welt fragwürdig. Unter dem Aspekt der Selbsterfahrung ist der L. als »mein L.« Ausgangspunkt der Welterfahrung, hinter den nicht zurückgegangen werden kann. Als solcher wird der L. bei Schopenhauer und Nietzsche zu einem zentralen philosophischen Begriff. Diese Stellung behält er in der Anthropologie des 20. Jh. bei, wobei er unter dem Einfluss der Evolutionstheorie zunächst vom L. der Tiere her verstanden wird; von hier aus zeigt sich dann das Spezifische des Menschen in der Zwiespältigkeit, L. zu sein, wie er sich unmittelbar in seiner Existenz erfährt, und zugleich einen L. als Medium seines Verhaltens zur Welt zu haben. Wird der grundlegende Zusammenhang von L.-sein und L.-haben vernachlässigt, so kommt es zu einer Instrumentalisierung, die in Abgrenzung vom angemessenen Verständnis durch den Begriff Körper angezeigt wird.

MKO

Merleau-Ponty hat in seiner phänomenologischen Erörterung dem L. einen spezifischen Stellenwert bei der Konstitution von Sinn eingeräumt. Der Sinn zeigt sich schon in der Art, wie das Sinnliche sich unserem L. darbietet. Merleau-Ponty führt den L. als »eigenen L.« (corps propre) ein, der als fungierender und lebendiger L. Erfahrungen zustandebringt und dabei in der Erfahrung selbst mitgegenwärtig ist. In dieser Weise ist er einerseits ein allgemeines Medium zur Welt und zugleich ein Situiertsein in der Welt. Dies kommt prägnant in der mit dem L. gegebenen Bewegungsintentionalität zum Ausdruck. Mit dem L. ist nicht nur ein Körperschema und damit auch eine eigene Räumlichkeit verbunden, sondern ebenso ein sensomotorisches Erfahrungsfeld, wobei Gesichtsfeld und Handlungsfeld miteinander verschränkt sind. Sinnstrukturen ergeben sich auf der Grundlage von Bewegungen und Bewegungserfahrungen, ohne dass diese bewusst gesteuert sein müssten. Auf der Basis dieser Leibkomponente allen Sinns wendet sich Merleau-Ponty der Sinnhaftigkeit des phänomenalen Feldes zu, für das er geltend macht, dass es als die sachlich-dingliche, belebte, geschichtliche und soziale Lebenswelt verstanden werden soll. Der Ausdruck »Feld« soll anzeigen, dass das Bewusstsein die Welt als sein Korrelat nicht von außen betrachtet, vielmehr soll es gleichsam in einem solchen Feld situiert sein. Wie dieser mittlere Bereich aussehen kann, macht Merleau-Ponty am Beispiel des Wahrnehmungsbewusstseins deutlich: Dieses soll nicht als reine Innerlichkeit, also nicht als Selbstgegenwart, sondern als ein leibhaftes Bewusstsein begriffen werden. Dadurch spricht er dem phänomenalen L. den Status zu, das eigentliche Subjekt der Wahrnehmung zu sein. In der Dimension der L.lichkeit ist ein dritter Bereich zu sehen, in dem die Unterscheidung zwischen bloß Objektivem (sprich: gegenständlicher Welt) und bloß Subjektivem (sprich: Denken) unterlaufen wird. Diese dritte Dimension der L.lichkeit macht Merleau-Ponty an einem Beispiel deutlich: Anhand der Berührung der einen Hand meines L.es durch die andere zeigt sich die Verschränkung von Subjekt des Empfindens (d.i. die berührende Hand) und Objekt der Empfindung (d.i. die berührte Hand). Von diesem Beispiel ausgehend, gelangt man zu der allgemeinen Aussage, dass der L. mit der Empfindung der Sache gleichzeitig sich selbst in der Sache empfindet. Insofern kann man davon sprechen, dass die Sache in derselben intentionalen Struktur befangen ist wie der L. Das Ding hat einen Sinn, der nicht von den Empfindungen trennbar ist, in denen er »inkarniert« ist. Die Organisation der Wahrnehmung lässt sich nicht von der Organisation des L.es trennen. Darin liegt der sachliche Grund für die Kritik an der tradierten Vorstellung, dass ein sinnliches Material erst durch die intellektuelle Formung Bedeutung erhält. Der unmittelbare Sinn der Gegenstände ist kein intellektueller Sinn (durch Sinngebung), sondern entspringt der Vertrautheit meines L.es mit ihnen. – Merleau-Pontys Annahme, dass die Wahrnehmung ein leibliches Geschehen ist, in die das Ich mit seiner personalen Existenz verwoben ist, hat auch Auswirkungen auf die Frage, wie man sich Intersubjektivität vorzustellen habe. Während Husserls diesbezügliche Überlegungen von dem transzendentalen Subjekt ausgehen, zeigt sich bei Merleau-Ponty die L.lichkeit als verbindende Stelle zwischen mir und dem anderen. Auf der einen Seite ist die L.lichkeit meine Weise, in der Welt anwesend zu sein, auf der anderen wird auch der andere unter dem Aspekt der L.lichkeit wahrgenommen. Die L.lichkeit wird so zu einer verbindenden Stelle zwischen Ich und Du. In der L.lichkeit beider zeigt sich eine gemeinsame Zugehörigkeit zur Welt. Beide sind Bestandteil einer Totalität, d.i. einer einzigen »intercorporéité«. PP

Literatur:

  • K.O. Apel: Das Leibapriori der Erkenntnis. In: Archiv für Philosophie 12 (1963). S. 152–172
  • S. Grätzel: Die philosophische Entdeckung des Leibes. Wiesbaden 1989
  • H.-E. Hengstenberg: Der Leib und die letzten Dinge. Dettelsbach 31996
  • M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966
  • P. Prechtl: Husserl. Hamburg 1998, S. 147–152
  • B. Waldenfels: Phänomen und Struktur bei Merleau-Ponty. In: Ders.: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt 1985.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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