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Metzler Lexikon Philosophie: Medizinische Ethik

beschäftigt sich bevorzugt mit den Grenzfällen des menschlichen Lebens insbesondere am Anfang und am Ende. Als ihr oberster Grundsatz gilt das Prinzip der informierten Zustimmung bzw. der Entscheidung der betroffenen Patienten. Er ist jedoch nicht überall anwendbar (Notfallmedizin, Psychiatrie, Pränatale Diagnostik). Daher arbeitet die m.E. heute an einem Set ethischer Faustregeln für eine differenziertere Betrachtung des Verhältnisses von Arzt und Patient in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Deren erste Grundregel verpflichtet zur weitmöglichen Respektierung der Patientenautonomie (1). Der Haupt-Betroffene soll über die Art der Behandlung entscheiden. Da aber normalerweise bei schwerwiegenderen und darum strittigen Eingriffen nicht nur der Patient die Folgen trägt, sondern auch sein Umfeld, sind weitere Faustregeln zu entwickeln. Die zweite Grundregel verpflichtet, weitmöglich niemandem zu schaden (2). Sie stammt aus der skeptischen Ethik und erwartet sorgfältige Schadensvermeidung bei der Therapie sowie bei Nebeneffekten. Sie gilt für Ärzte, das Pflegepersonal, Verwandte, aber auch für den Patienten selbst. Die dritte Regel fordert nach Möglichkeit Wohltun, Nutzen, Heilen und Retten (3). Sie entstammt der utilitaristischen Ethik, aber auch dem paternalistischen hippokratischen Standesethos der Mediziner. Gerechtigkeit ist Regel (4) und verpflichtet zur Folgenabschätzung und zur Berücksichtigung möglichst aller Betroffener bis hin zur Gesellschaft. Sie fordert Gleichbehandlung in vergleichbaren Umständen, Fairness gegenüber Schwächeren (Schutz der Kranken oder Schutz vor Kranken) und Berücksichtigung der Betroffenen nach Gesichtspunkten formaler Gerechtigkeit (nach der Art der Beteiligung, nach Bedürfnissen, nach Leistung, nach Verdienst, nach Konventionen). Gemäß der m.E. verpflichten diese Faustregeln mit abnehmender Dringlichkeit. Die Patientenautonomie genießt z.B. hohe Präferenz, ist aber gerade in Grenzfällen nicht der einzige Bewertungsgrundsatz. Bei medizinethischen Konfliktfällen ist in der Regel zu fragen, wer in welchen Situationen für andere, aktuell nicht kompetente Patienten entscheidungsbefugt ist. Entscheidungen anstelle von anderen sind mit besonderer Sorgfalt gemäß oben genannten Regeln zu treffen und begründungspflichtig. In Notfallsituationen wird dies in der Regel der Arzt sein, weil hier in kurzer Zeit lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden müssen. In Endphasen chronischer Erkrankungen jedoch sind Patienten berechtigt, dem Arzt eine Reanimation zu untersagen. Krankheitsbedingte mangelnde Krankheitseinsicht und (momenthafte) Aufhebung von Freiheit und Entscheidungskompetenz infolge psychischer Erkrankungen erfordern die Berufung eines Vormundes, der in der Regel ein naher Angehöriger sein sollte. Inkompetenzunterstellungen sollten sehr vorsichtig gehandhabt werden.

Eine patientenzentrierte m.E. betont die Prävention und psychosomatische Seite der Betreuung, insbesondere in der Endphase chronischer Erkrankungen. Eine professionelle Sterbebegleitung inklusive der Betreuung der Angehörigen, der Dialog aller Beteiligten ist wichtiger als die exzessive Nutzung der Apparatemedizin. Intensivmedizin sollte Notfallmedizin sein. Hier ist das alte biomedizinische Krankheitsverständnis berechtigt. Im Sinne der Patientenautonomie sind unter bestimmten Umständen auch Formen der passiven Euthanasie (Unterlassung der Weiterbehandlung der Krankheit in der Sterbephase) ethisch zu rechtfertigen. Als problematisch gilt nach wie vor die Tötung auf Verlangen.

Die Verrechtlichung der Medizin und Defensivmedizin stellt ein Problem dar, insofern sie die Apparatemedizin stärkt und die Behandlungskosten erhöht. Prävention senkt sie, allerdings führt die Forderung nach intensiverer psychologischer Betreuung von Patienten und Personal zu höheren Kosten. Die gerechte Verteilung von Ressourcen, die nur begrenzt vorhanden sind, z.B. Betten auf der Intensivstation, oder Organe für die Transplantation, stellen ein weiteres Problemfeld der m.E. dar (Allokation). – Viele medizinethische Fragen lassen sich nur unter Bezug auf anthropologische Klärungen beantworten, so steht z.B. die zum Zweck der Organentnahme getroffene, pragmatische Hirntod-Definition auf anthropologisch nicht hinreichend geklärtem Boden.

Literatur:

  • E. Amelung (Hg.): Ethisches Denken in der Medizin. Berlin u.a. 1992
  • T. Beauchamp/J.F. Childress: Principles of biomedical Ethics. Oxford 62008
  • L. Honnefelder/G. Rager (Hg.): Ärztliches Urteilen und Handeln. Frankfurt 1994
  • B. Irrgang: Grundriß der medizinischen Ethik. München/Basel 1995.

BI

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WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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