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Metzler Lexikon Philosophie: Musikphilosophie

ist ein Teilgebiet der Philosophie, welches nicht in erster Linie musikalisch motiviert ist, sondern die Musik mit philosophischen Methoden untersuchen will. Der Wortursprung von »Musik« liegt im griech. μoυσικη' (»das den Musen Zugehörige«), womit alles der geistigen Ausbildung Dienende gemeint ist. Den Ausgangspunkt der Reflexion über Musik in der Antike bilden Mythen, in denen Grunderfahrungen musikalischer Gestaltung formuliert wurden. In der Vorsokratik ist Pythagoras von grundlegender Bedeutung für die Musiktheorie. Harmonie und Zahl werden zum Prinzip alles Seienden, die durch Bestimmung von Intervallen wahrgenommen werden. Die Verhältnisse musikalischer Harmonien bilden nach Aristoteles für die Pythagoreer die Elemente aller Dinge (Met. 985b f.). Für Platon ist Musik Bestandteil der tugendhaften Erziehung (Politeia 398c ff.), weil Harmonie und Rhythmus »vorzüglich in das Innere der Seele eindringen« (401d) und so die sittliche Haltung prägen. Das Sehen ebenso wie Stimme und Gehör sind dem Menschen als »Geschenk der Götter« gegeben, um die Ordnung der Welt zu erkennen und die (erkennende) Seele mit ihr in Einklang zu bringen (Timaios 47c-e). Mit Aristoteles beginnt die Ablösung der Musik von ihrer Einbettung in die kosmische Harmonie und ihrer ethischen Zielsetzung. Damit ist der Weg bereitet für eine Musikwissenschaft, die sich mit den spezifischen musikalischen Eigenschaften als solchen beschäftigen kann. Im MA wird Musiktheorie in den septem artes liberalis gelehrt, im Quadrivium benachbart der Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Die Herausbildung der Notenschrift (11. Jh.) unterstützte die M., weil ästhetische Qualitäten nun nicht mehr nur hörbar sind. In Renaissance und Humanismus werden die Lehren der Antike neu interpretiert. J. Tinctoris unterstreicht im 15. Jh. erstmals die Wertschätzung einer Komposition als eigenständiges Kunstwerk (Complexus viginti effectuum nobilis artis musicae, 1473). In Barock und Aufklärung herrscht unter Berufung auf Plutarch eine Verbindung von Musik und Dichtung (J. N. Forkel: Versuch einer Metaphysik der Tonkunst, 1739). Mitte des 18. Jh. antizipiert Leibniz die Autonomie der Kunst. Musik definiert er als »verborgene arithmetische Tätigkeit des unbewußt zählenden Geistes« (Epistolae ad diversos, 1734). Bei Kant werden in der Kunst ästhetische Ideen durch das Miteinander der Erkenntnisvermögen erfahrbar, die im Geschmacksurteil analysiert werden. Musik wird nur bedingt eine schöne Kunst. So kann sie nur durch ihre Beziehung zur Poesie ein »Ausdruck ästhetischer Ideen« werden (KU § 51). Unter allen Künsten ist nach Schopenhauer die Musik allein nicht nur Abbild der Ideen, sondern des Willens selbst, »deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen« (Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 52). Auch für Nietzsche ist Kunst eine metaphysische Tätigkeit des Menschen (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872). In der attischen Tragödie vereinige sich das rauschhaft Dionysische mit der hellen Erhabenheit des Apollinischen. Musik ist dionysische Kunst, die die eigentliche Idee der Welt zum Ausdruck bringt und der bildhaft dramatischen Umsetzung vorausgeht. Dilthey fordert eine »musikalische Bedeutungslehre«, die musikalische Ausdrucksschemata aus Sprachtonfall und Tanzbewegungen herleitet (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910). In Husserls M. wird die Musik zum Zeitgegenstand, denn die Synthese aus Beständigkeit und Objektivität konstituiert jeden Gegenstand als Zeitgegenstand (Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1905). Im 20. Jh. repräsentiert Kunst die Vorform der Philosophie als das Absolute der Anschauung. Die Musik bedarf bei Adorno der Philosophie, um deren »Rätselcharakter« zu entschlüsseln (Philosophie der neuen Musik, 1949); die Philosophie wiederum benötigt die Kunst, um das Unwiederholbare vorzuzeigen. Die Rahmenbedingungen der Musik begreift Adorno als durch Kompositionen geformtes Material, welches von Generationen erprobt und gesellschaftlich objektiviert wurde. Nach Bloch entfaltet das Kunstwerk die im Seienden angelegten Tendenzen zur Befreiung menschlicher Träume und Wünsche. Gleichzeitig distanziert sich die Musik von der Natur und der historischen Wirklichkeit (Das Prinzip Hoffnung, 1954–1959). Nach 1950 werden neue Vermittlungsformen in der Musik gesucht. Der Komponist J. Cage entwirft schon 1937 ein ästhetisches Modell, in dem sein musikalisches Material um das Geräusch erweitert wurde. Er bildet das Prinzip der elektronischen Musik vor. Der Komponist Kostelanetz spricht 1952 von der »Folgerungskunst« bei Cage, in der der Hörer entscheidet, ob die Musik gelungen ist, indem er mittendrin ist. In den 1960er Jahren entwickelt der Komponist I. Xenakis die stochastische Methode, in der er eine Osmose von Wort und Klang fordert, bis zum Umschlagen des einen in das andere. Die Musik bezieht ihre Kraft bei dem Philosophen Deleuze aus der Spannung von rahmensetzenden Komponenten (Melodie, Motive, Themen) und rahmenöffnenden (Modulation, Rezeption etc.), wodurch eine Kompositionsebene geschaffen wird, die dem Kunstwerk garantiert, dass es der Macht der Entrahmung unterzogen wird und somit abgeschlossene Identitäten auf unendlichen Bewegungen öffnet (Was ist Philosophie?, 1991). Das Ziel ist eine höhere Deterritorialisierung, um die Empfindungen ins Universum zu geleiten.

Literatur:

  • S. Bimberg u. a. (Hg.): Handbuch der Musikästhetik. Leipzig 1979
  • C. Dahlhaus: Musikästhetik. Köln 1967
  • O. Fürbeth/S.L. Sorgner (Hg.): Musik in der deutschen Philosophie. Stuttgart/Weimar 2003
  • Art. Musikästhetik. In: Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft. Band 1. Hg. v. Helga de la Motte-Haber. Laaber 2004
  • P. Schnaus (Hg.): Europäische Musik in Schlaglichtern. Mannheim u. a. 1990
  • N. Schneider (Hg.): Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne. Stuttgart 1996
  • G. Schumacher: Einführung in die Musikästhetik. Wilhelmshafen 1975
  • G. Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno. Hamburg 2003
  • O. Ursprung (Hg.): Musikästhetik. Ettal 1954.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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