Direkt zum Inhalt

Metzler Lexikon Philosophie: Natur

(lat. natura von nasci, geboren werden, griech. physis), die Gesamtheit der Dinge, die frei von menschlichem Einfluss von selbst gewachsen bzw. entstanden sind, den Grund ihres Daseins in sich selbst tragen und in ihrer Entwicklung durch innere, ihnen eigentümliche Faktoren bestimmt sind. Mit der N. von Dingen kann dann auch das gemeint sein, was diese Dinge als Naturdinge auszeichnet, also das Ensemble der inneren, für ihr Dasein und ihre Entwicklung wesentlichen Eigenschaften oder Kräfte, d.h. ihr inneres Wesen. – Dieser traditionelle Begriff von N. ist von der Aristotelischen Naturphilosophie geprägt. Nach Aristoteles folgen alle Dinge, sofern sie nicht menschlicher Planung entspringen, einer in ihnen angelegten Bestimmung auf ein Ziel hin (griech. telos). In dieser Zielgerichtetheit (Teleologie) drückt sich die innere N. der Dinge aus (Entelechie), die nur durch äußere Kräfte gestört werden kann. Die innere N. gilt dabei zugleich als principium individuationis der Naturdinge. N. dient als Gegenbegriff zur menschlich geplanten und ins Werk gesetzten Wirklichkeit (Technik, Kunst). Der Gegensatz von N. und Kultur wird in der Aristotelischen Philosophie dadurch gemildert, dass beide eine analoge teleologische Struktur aufweisen. Wie die N. bei der Erzeugung von Naturdingen verfährt, so müsste auch ein menschlicher Baumeister bei ihrer Herstellung vorgehen. Naturdinge sind danach von künstlichen Dingen allein dadurch unterschieden, dass erstere ihren Bauplan in sich selbst tragen. Die Vorsokratiker sahen in der N. (physis) das gemeinsame Urprinzip der Dinge (Arche), und zwar sowohl in zeitlich-genetischer als auch (v. a. bei den Atomisten) in systematisch fundierender Hinsicht (z.B. Wasser als Urstoff aller Dinge bei Thales von Milet). Bei Demokrit und später bei Lukrez (De rerum natura) kann von einem atomistischen Begriff der N. gesprochen werden. Platon deutet die Urprinzipien der Dinge als unwandelbare, ideale Formen (Ideen), die ein Reich des eigentlich Wirklichen bilden. – Der platonische Begriff der N. kehrt in der Renaissance wieder. Bei Galilei werden die Gegenstände der Naturwissenschaft durch Idealisierung gewonnen. Nur über die idealisierten Gegenstände spricht die Sprache der N., die Mathematik. In der christlichen Philosophie wird N. auch als Gegenbegriff zum theologischen Begriff des Übernatürlichen verwendet. N. ist hier alles, was nicht selbst göttliche Offenbarung ist, aber als deren Träger dienen kann. In Voltaires Diktum »Alles ist Natur« drückt sich daher die Opposition gegen die Anwesenheit göttlicher Offenbarung in den Naturdingen aus (Naturalismus). Im 17. Jh. setzt sich ein mechanistischer Begriff der N. durch. N. wird zum Inbegriff einer komplexen kosmischen Maschine, die nach unwandelbaren, von Gott als Schöpfer der N. eingerichteten Gesetzen funktioniert (Naturgesetz). So sollte N. nicht mehr als ein selbständiger Agent gesehen werden, sondern als »ein System von Regeln, demgemäß derartige Agenten und die Körper, auf die sie wirken, vom großen Schöpfer aller Dinge zu handeln und zu leiden bestimmt sind« (Boyle). Auch Kant bestimmt die N. als das »Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist« (Prolegomena, A 71). Zum Paradigma der mechanistischen N. wird das Planetensystem, dessen Dynamik von Isaac Newton erklärt worden war. Aristotelisch zeigt sich nur die von äußerem Eingriff ungestörte N. dem Betrachter in ihrem Wesen. Nach dem mechanistischen Begriff der N. ermöglicht das Wirken der Naturgesetze, die N. auch in künstlich hergestellten experimentellen Situationen zu erforschen. Hegel deutet den durch die neuzeitliche Wissenschaft hervorgetretenen Gegensatz von N. und Geist im Rahmen einer Geschichte des Geistes: N. ist der noch nicht zum Bewusstsein seiner selbst gekommene Geist; die Geschichte der N. kulminiert in der Domestikation der urwüchsigen N. Spinoza bestimmt Naturdinge als Einheit von Naturprodukt (natura naturata) und Zwecke setzendem Akteur (natura naturans). Schelling bestreitet die Exklusivität der Naturwissenschaft hinsichtlich wahrer Erkenntnis der N.; während diese N. als bloßes Produkt zum Gegenstand hat, ergänzt die Naturphilosophie die Naturforschung um die kreative, schöpferische Seite der N., also N. als Produktivität. Auch Goethe betont die kreative N., das Naturganze soll als ein lebendiger Wirkungszusammenhang erfasst werden. In der Romantik erhält die wilde, unveränderte N. eine positive Wertung: Ihre (Wieder-)Aneignung wird als Bedingung wahrer Autonomie des Menschen verstanden. Bereits Rousseau hatte Natürlichkeit zu einem moralischen Standard des Menschen erhoben, die zivilisatorische Verfasstheit der Gesellschaft als Vergehen an den von N. gegebenen Anlagen des Menschen gesehen. – Der seit Darwin in der Naturwissenschaft präsente Begriff der Evolution führte im 20. Jahrhundert zu einer Renaissance des Gedankens der Geschichtlichkeit der N., nicht nur in der Biologie, sondern ebenso in Kosmologie, Geologie oder Kognitionsforschung. Themen der romantischen Naturphilosophie wie die Selbsttätigkeit (Selbstorganisation) der N. oder der Übergang zwischen toter und lebendiger Materie werden in modernen naturwissenschaftlichen Theorien der Selbstorganisation und der Lebensentstehung im Sinne empirischer Gesetzeswissenschaft behandelbar. In ihnen zeigt sich eine starke Einbindung der N. des Menschen in das Ganze der N. Das Bewusstsein der ökologischen Krise hat in den 80er Jahren ein verstärktes Interesse an N., philosophisch v.a. an praktischer Naturphilosophie ausgelöst. So ist es heute nach G. Böhme v.a. die Aufgabe der Naturphilosophie, die Beziehung des Menschen zur N., einschließlich des eigenen Körpers, in ethischer und ästhetischer Hinsicht zu reflektieren. Kritiker der modernen Naturwissenschaft und Technik, die ihr v.a. die Verantwortung für die ökologische Krise anlasten, fordern oft einen neuen Begriff der N. Dieser solle nicht mehr Verfügbarkeit und passive Objekthaftigkeit der Naturdinge konstatieren, sondern die Subjekt-Objekt-Einheit von N. und menschlicher Erkenntnis (vgl. Weizsäcker 1986) und die Selbsttätigkeit der N. formulieren. Umstritten ist die Forderung nach ethischen Eigenrechten der bzw. Pflichten gegen die N. (vgl. Jonas 1979, Birnbacher 1990).

Literatur:

  • Aristoteles: Physik
  • D. Birnbacher: Rechte des Menschen oder Rechte der N.? In: H. Holzhey/J. P. Leyvraz: Persönliche Freiheit. Stuttgart 1990
  • M. Heidelberger/S. Thiessen: N. und Erfahrung. Hamburg 1981
  • H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt 1979
  • I. Kant: Prolegomena
  • F. Rapp (Hg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung. München 1981; darin v.a. J. Mittelstraß: Das Wirken der N
  • F. W. J. Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie
  • Ders.: Ideen zu einer Philosophie der Natur
  • O. Schwemmer (Hg.): Über N. Frankfurt 1987
  • C.F. von Weizsäcker: Die Einheit der Natur. München 1986.

AB

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.