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Metzler Lexikon Philosophie: Naturrecht

Vorstellung von einem überpositiven Recht, das unabhängig von menschlicher Verfügung gilt und als höherwertige Normordnung Maßstäbe für die Bewertung jeglichen positiven Rechts definiert. N. kann daher seinem Anspruch nach bestehende Rechtsordnungen sowohl legitimieren als auch kritisieren oder limitieren. – Bei insgesamt gleichbleibender Funktion wurde das N. im Laufe seiner Geschichte unterschiedlich begründet: Wurde zunächst von den Sophisten die gesetzmäßig strukturierte Ordnung der Natur selbst als normgebende Instanz erkannt, so wurde das N. schon wenig später von dem teleologisch aufgefassten Wesen des Menschen abgeleitet und als Mittel menschlicher Wesenserfüllung gerechtfertigt (z.B. bei Aristoteles). Während die Patristik und die Scholastik das N. als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung auffassten, bildete sich vor allem im 17. Jh. ein profanes N. heraus, das zwar weitgehend anthropologisch argumentierte, zugleich aber auf das von Kant als Vernunftrecht begründete N. vorauswies. Unabhängig von theologischen Anleihen und empirischen Zusatzannahmen definierte Kant das N. als ein »auf lauter Prinzipien a priori« beruhendes Recht, das »durch jedes Menschen Vernunft« erkennbar ist und »zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Prinzipien« formuliert. Während naturrechtliche Normen, die ursprünglich nur postulativ formuliert waren, in den Verfassungsurkunden moderner Staaten Eingang fanden und auf diese Weise positiviert wurden, ist das N. seit dem beginnenden 19. Jh. der massiven Kritik der verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus ausgesetzt. Dem N. wurde vorgeworfen, trotz des unübersehbaren geschichtlichen Wandels an überzeitlichen, universal gültigen Normen festzuhalten, die – so ein weiterer Vorwurf – in ihrer Abstraktheit keinerlei Anhaltspunkte für rechtspraktische Konkretisierungen bieten. Das mit dem N. immer schon verbundene doppelte Problem der Begründung einer normgebenden Instanz einerseits und der stringenten Ableitung naturrechtlicher Normen andererseits konnte nach Auffassung des Rechtspositivismus nicht befriedigend gelöst werden. Er hielt dem N. – durchaus nicht immer zu Recht – vor, normative Aussagen aus deskriptiven Sätzen über Naturtatsachen formallogisch fehlerhaft (Sein-Sollen-Fehlschluss, Empiristischer Fehlschluss) abzuleiten (vgl. Kelsen).

Dennoch ist der ursprüngliche Impuls des N.s, die Frage nach dem richtigen Recht vor allem als Frage nach der Legitimität des positiven Rechts, nicht ohne weiteres abweisbar (vgl. auch Rawls). So wird gegenwärtig – etwa von Höffe – versucht, die Naturrechtstradition einer überpositiven Rechts- und Staatskritik mit Begriffen der »politischen Gerechtigkeit« fortzusetzen. Es geht dabei um ein nicht-dogmatisches, »kritisches N.«, das wesentliche Einsichten des Rechtspositivismus berücksichtigt und durch die an Kant orientierte Art ihrer sittlichen Fundierung dem Sein-Sollen-Fehlschluss entgeht. Auch Habermas’ Bemühungen, die Legitimität des positiven Rechts auf der Basis einer kommunikativen Vernunft, die sich im Prozess der Rechtsetzung geltend macht, zu begründen, zehrt in letzter Konsequenz noch von den ursprünglichen Intentionen des N.s. Dies lässt sich feststellen, obwohl sein auf das Rationalitätspotential der Sprache vertrauender subjektdezentrierter Vernunftbegriff bewusst nachmetaphysisch konzipiert ist und sich daher von den metaphysischen Prämissen des älteren N.s und des auf praktischer Vernunft beruhenden Vernunftrechts distanziert.

Literatur:

  • K. Graf Ballestrem (Hg): Naturrecht und Politik. Berlin 1993
  • G. Ellscheid: Das Naturrechtsproblem. In: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hg.): Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Heidelberg 72004
  • F. Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Tübingen 2000
  • K. Haakonssen: Natural Law and Moral Philosophy. Cambridge 1996
  • J. Habermas: Faktizität und Geltung. Frankfurt 1992
  • G. Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Freiburg u. a. 21999
  • K.-H. Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. Stuttgart 1983
  • M. Kaufmann: Rechtsphilosophie. Freiburg 1996
  • H. Kelsen: Reine Rechtslehre. Wien 21960
  • D. Klippel (Hrsg.): Naturrecht und Staat. München 2006
  • D. Mayer-Maly/P. M. Simons (Hg.): Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Berlin 1988
  • W. Maihofer (Hg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus? Darmstadt 1962
  • M. C. Murphy: Natural Law and Practical Rationality. Cambridge 2001
  • L. Strauss: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt 1977.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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