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Metzler Lexikon Philosophie: Neomarxismus

Traditionslinie des Marxismus, der es unabhängig und jenseits von ideologischen wie herrschaftslegitimatorischen Indienstnahmen von seiten der Machteliten des »Realen Sozialismus« darum zu tun war und ist, das Marx’sche Erbe kritisch und undogmatisch anzueignen und fortzuentwickeln. Während für die dogmatischen Versionen des Marxismus bis in die jüngste Zeit hinein die »Arbeiterklasse« in ihrem revolutionären Auftrag im Zentrum der »marxistisch-leninistischen Weltanschauung« stand, ist spätestens seit dem Ende des 2. Weltkrieges für den N. ein Einbekenntnis des tendenziellen Verschwindens des »revolutionären Subjekts« und seine Substitution durch allgemeiner gefasste Hoffnungsträger für die von Marx in Auftrag gegebene Überwindung der entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus kennzeichnend. – Einer so zu nennenden Philosophie der revolutionären Praxis geht es darum, den revolutionären Charakter der von Marx begründeten materialistischen Geschichtsphilosophie herauszustreichen und wieder ins Zentrum der theoretischen Arbeit zu rücken. Dabei setzen die beiden ital. Vertreter Labriola und Gramsci ihre Hoffnung noch völlig ungebrochen auf die Kraft der proletarischen Bewegung, die erkannt hat, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern lassen und dass das Mittel der angezielten Veränderung die revolutionäre Praxis dieser Bewegung selbst ist. Demgegenüber liegt den beiden frz. Vertretern Sartre und Merleau-Ponty daran, nach dem für die europäische Arbeiterbewegung tiefgreifenden Einschnitt des 2. Weltkrieges die Grenzen dieser revolutionären Perspektive der Philosophie der Praxis näher zu bestimmen. – Bereits im Begriff einer Kritischen Theorie der Gesellschaft wird deutlich, dass deren Vertretern vor allem anderen an einer kritischen Gesellschaftsanalyse gelegen ist. Dabei ist es für Adler wesentlich, dass die Marx’sche Theorie in einzigartiger Weise »Wissenschaft von den sozialen Gesetzmässigkeiten« ist, dass mit ihrer Hilfe die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung herauszuarbeiten sind. Horkheimer, der seit 1930 Leiter des Frankfurter »Instituts für Sozialforschung« war und mit diesem 1933 emigrieren musste, legte in seiner 1937 erschienenen und für die »Frankfurter Schule der kritischen Theorie« namengebenden Studie »Traditionelle und kritische Theorie« den Schwerpunkt der Letzteren auf die Selbstaufklärung der Menschen im und aus dem praktischen Horizont ihres gesellschaftlichen Lebens; die »gesellschaftliche Funktion« der »Kritischen Theorie« liegt ihm zufolge in der »Kritik des Bestehenden«. Während für Horkheimer das Proletariat erklärtermaßen nicht mehr allein das revolutionäre Subjekt der gesellschaftlichen Emanzipation ist, ersetzt Adorno in den 60er Jahren die Marx’sche Dialektik der Negation der Negation durch eine »Negative Dialektik« und gibt damit die Hoffnung auf die prinzipielle Möglichkeit einer Aufhebung der Entfremdung vollends preis. Einzig eine kritische Theorie ist noch zum Widerstand fähig, jede revolutionäre Praxis steht grundsätzlich vor der Gefahr, in blinden Aktionismus umzuschlagen. Diesen Geschichtspessimismus teilt der dritte Vertreter der Frankfurter Schule, Marcuse, nicht. Ins Zentrum seiner Kritik stellt er die »Eindimensionalität« der gesellschaftlichen Entwicklung im Kapitalismus und ruft – vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges wie der Studentenrevolte – zur »Großen Weigerung« auf. – Eine dritte Traditionslinie des westlichen N. folgt wohl am problembewusstesten der von Marx ausgearbeiteten Dialektik und wäre deshalb als Dialektische Praxisphilosophie anzusprechen. Sie setzt ein mit den 1923 gleichzeitig erscheinenden Werken Marxismus und Philosophie von Korsch sowie dem bekannteren Geschichte und Klassenbewußtsein von Lukàcs. Beide stellen das theoretische Begreifen der gesellschaftlichen Praxis als Teil dieser Praxis selber dar und verweisen damit auf die materielle Bedingtheit der Theorie aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. In der Folge geht es Bloch zwar auch um dieses im Marxismus bis dahin traditionell im Zentrum stehende, dialektische Verhältnis von Mensch und Gesellschaft, darüber hinaus aber ist er der erste, der den dialektischen Zusammenhang von gesellschaftlicher Praxis und Natur ins Bewusstsein hebt und damit eine noch ausstehende »Allianztechnik« einfordert, die das bisherige ausbeuterische Verhalten des Menschen der Natur gegenüber beenden soll. Bei Lefèbvre schließlich kommt der eingangs angesprochene historische Tatbestand einer fortgeschrittenen Dissoziierung des Proletariats als revolutionärer Klasse am deutlichsten zum Ausdruck, wenn er das bereits von Marx in Auftrag gegebene Projekt einer »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« nicht mehr traditionell an die Arbeiterklasse bindet, sondern von einer Aufhebung der Philosophie in eine »Metaphilosophie« des Alltagslebens spricht, die sich die Aufgabe einer prinzipiell nicht ein für allemal abschließbaren radikalen Veränderung der Alltäglichkeit stellt, an der mitzuarbeiten alle Menschen aufgerufen sind. Anzuknüpfen ist dabei an die »Residuen« des menschlichen Lebens, die der immer totaler werdenden Entfremdung bislang widerstanden haben. – Neben diesen westlichen Repräsentanten des N. dürfen diejenigen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern nicht vergessen werden; hier wären v.a. die jugoslawische »Praxis«-Gruppe um Petrovic und Markovic, der tschechische Philosoph Kosik sowie die seit längerem emigrierte ungarische Gruppe um Heller und Markus hervorzuheben.

Literatur:

  • W. Schmied-Kowarzik: Kritische Philosophie der gesellschaftlichen Praxis. In: H. Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Bd. 3. Hamburg 1990.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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