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Metzler Lexikon Philosophie: Nomos

(griech. Brauch, Sitte, Konvention, Gesetz). Zur Etymologie: N. leitet sich her aus nemein (urverwandt mit dem deutschen »nehmen«), das zuteilen, aber auch weiden bedeutet; es bezeichnete also ursprünglich wohl das Zugeteilte, nämlich das zugeteilte Weidegebiet.

(1) In der archaischen Zeit, bei Hesiod (op. 276 ff.), bezeichnet N. die einer Gruppe von Lebewesen »zugeteilte« und bei ihnen geltende Ordnung, die als unverbrüchlich und objektiv akzeptiert wird: Der N. ist das Geltende. Solange man sich des subjektiven Ursprungs dieser geltenden Ordnung nicht bewusst wurde, wurde der N. als absolut gültig und richtig angesehen. Bekanntester Ausdruck dafür ist das Pindar Frg. 169, in dem es heißt: »der N. ist König über alle, Sterbliche und Unsterbliche; er tut mit überlegener Hand das Gewalttätigste, indem er es zugleich zu Recht macht«, d.h. sogar Gewalttaten lassen sich rechtfertigen, wenn sie im Namen des N. geschehen.

(2) Aus der Geschichtsschreibung und Ethnographie, wie bei Herodot, kommt allmählich eine Relativierung in diese Heiligkeit und Unantastbarkeit des N. Zwar beschreibt Herodot die verschiedenen Bräuche der Völker so, dass er ihren verpflichtenden Charakter für die Völker, bei denen sie gelten, akzeptiert, aber er beurteilt sie doch von der griechischen Warte aus als besser, weiser oder schlechter.

(3) Aber damit war der Boden für die allmählich einsetzende Kritik am N. bereitet: Der Brauch steht jetzt der Vernunft oder der Wahrheit gegenüber als etwas, was »nur« eine Konvention ist, so, wenn Demokrit die allgemein üblichen Vorstellungen von Farbe, Geschmack usw. als nur auf N. beruhend bezeichnet, weil sie nicht das wirkliche Wesen der Dinge treffen, das in den Atomen und dem Leeren besteht. Nur der Sprachgebrauch hat die Bezeichnungen für die Eindrücke der Sinne geschaffen, für den Physiker ist dieser N. falsch, da er nicht das wahre Wesen der Dinge bezeichnet. Hier beginnt sich der Wissenschaftler von der unwissenden Menge abzusetzen, deren Meinung sich im N. niederschlägt.

(4) Aus der ursprünglichen Achtung vor dem N., der durch die Verachtung der ohne N. lebenden Barbaren noch gesteigert wurde, entwickelte sich unter dem Einfluss der vergleichenden Ethnographie einerseits, der ionischen Naturphilosophie andrerseits allmählich die Kritik am N. als »nur« konventionell. Ob Archelaos wirklich der erste war, der die allgemein geltenden Wertungen für nur konventionell erklärte (Diogenes Laertios II, 16), ist umstritten. Fassbarer ist für uns Protagoras. In der langen Rede, die Platon ihn im Protagoras halten lässt, geht hervor, dass Protagoras den N. als für das Überleben der Menschheit notwendig ansieht: Es ist ein Teil der politischen Kunst, eine gerechte Ordnung einzuführen und zu akzeptieren. Es ist für den Menschen unter pragmatischen Gesichtspunkten einfach zwingend, sich an die bestehenden Gesetze zu halten. Diese Haltung stimmt überein mit Protagoras’ Theorie, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, die Platon im Theaitet darstellt. Wenn alles das für einen jeden wahr ist, was sich jeder vorstellt (Theaitet 158 e 5 ff.), scheinen zwar einerseits alle objektiven Maßstäbe verschwunden; aber dennoch gibt es nützlichere und unnützere Meinungen, so dass letztlich die Meinung der Polis insgesamt den Maßstab abgibt. Daraus folgt aber, dass uns die Natur kein Vorbild bieten kann, dass wir nichts anderes haben, an das wir uns halten können, als den N. Der N. ist zwar »nur« N., aber wenn das, was für wahr gehalten wird, auch wahr ist, folgt, dass man den geltenden N. als verpflichtend ansehen muss.

(5) Aber die relativistischen Implikationen dieser Lehre erwiesen sich bald als stärker als Protagoras’ eigene Interpretation des homo-mensura-Satzes: In dem Maße nämlich, wie man der Konvention die wahre Natur (physis) als Maßstab gegenüberstellte. Diese Gegenüberstellung ergab sich einerseits aus der vergleichenden Ethnographie, andererseits aus der naturwissenschaftlichen Medizin: Die Relativierung der Gültigkeit der Bräuche einerseits und der Vorbildcharakter der natürlichen Beschaffenheit gegenüber der nur menschlichen Ordnung führte zu einer Höherbewertung der physis gegenüber dem N. Diese Konsequenzen sehen wir in den platonischen Dialogen von Sophisten wie Kallikles im Gorgias und Thrasymachos im Staat vertreten. Platon selbst versucht, diesen so aufgerissenen Gegensatz zwischen N. und physis in seiner Philosophie zu lösen, indem er den N. auf die wahre, nämlich geistige physis des Menschen gründet.

Literatur:

  • F. Heinimann: Nomos und Physis. Darmstadt 1965
  • K. R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I (Der Zauber Platons). München 1980. Kap. 5.

MSU

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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