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Metzler Lexikon Philosophie: Poetik

Lehre von Form, Wesen und Wirkung der Dichtung. Aristoteles etabliert die P. als selbständige Disziplin innerhalb der Ästhetik und neben der (älteren) Rhetorik in seiner Schrift Poetik. Seine Ausführungen dienen der Normierung der Tragödie, sind aber für alle Gattungen prägend geworden. Er definiert: »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache...« (Poetik, Kap.6). Die Einheit von Ort und Zeit fordert Aristoteles nur indirekt, nämlich im Dienste einer übersichtlichen Handlung. Es sollen Handlungen künstlerisch nachgeahmt werden, die menschliche Charaktere aufgrund eines Konflikts in ihrer Lebenswirklichkeit ausführen. Durch Identifikation mit der dargestellten Konfliktsituation und deren Lösung auf der Bühne oder beim Lesen bauen sich Affekte beim Zuschauer ab. Er wird seelisch entlastet und erfährt so eine Läuterung (Katharsis). Die Beziehung von Form und Inhalt wird schon hier als zentrales Problem der P. erkannt. – Im Verlauf der römischen Antike und des MA. bis zur Aufklärung reglementieren die Poeten die künstlerische Gestaltung durch Formstrenge in Anlehnug an Aristoteles, stützen sich auf das Mimesis-Prinzip und implantieren poetischen Schriften einen moralischen Lehrsatz (im 18. Jh. v.a. Gottsched und Breitinger). Lessing wendet sich gegen die strenge Auslegung aristotelischer Forderungen durch den französischen Klassizismus (z.B. Corneille). Als früher Aufklärer will Lessing das Korsett der Regel von der Einheit von Handlung, Ort und Zeit sprengen, um der natürlichen Schaffenskraft des Künstlers und der Vernunft im Verstehensprozess der Werke freien Lauf zu lassen (Hamburgische Dramaturgie, 1767–69). – Die Dichter und Philosophen des Sturm und Drang und der Romantik lehnen das Mimesis-Prinzip und jede Formstrenge ab und entwickeln die Genietheorie, nach der das göttliche Individuum Kunst durch Freiheit und Intuition schafft. Das Genie besitzt »geniale Schöpferkraft« (Herder), wodurch ihm auch die Fähigkeit zum Entwerfen fiktiver Welten (anderer »möglicher Welten« nach Leibniz) und zur autonomen Formgebung der poetischen Werke zukommt. Seine Kreativität nährt sich aus der Tiefe subjektiver psychischer Empfindungen. Mit dem Begriff der »Universalpoesie« drücken F. Schlegel und Novalis die Überzeugung der Romantik aus, dass Poesie alle Lebensbereiche durchdringen und verzaubern soll. Die Poesie gelangt so in den Rang einer Ersatz-Religion. Aber auch die Philosophen des Dt. Idealismus weisen ihr eine mindestens ebenbürtige Stellung in der Wissenschaftshierarchie neben anderen Künsten und der Philosophie zu (z.B. Schelling). Hegel erkennt den überhöhten Anspruch der Poesie, gleichfalls Philosophie und Wissenschaft sein zu wollen. Dies unterdrücke ihre eigentliche Intention, emotionale Belange zu artikulieren. – Dilthey sieht in der P. eine Zugangsmöglichkeit zur Geschichte, da sie kraft ihrer Analysemethoden poetische Werke in ihrem historischen wie überzeitlichen Kontext zu erfassen vermag (Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik, 1887).

Der Untersuchungsgegenstand der P. ist die Dichtung, ein Begriff, der ein Einzelwerk, eine literarische Gattung (heute: »Lyrik«) oder den künstlerischen Schaffensprozess bezeichnet. Zur Gattung der Dichtung zählt man auch mündlich überlieferte poetische Werke, während sich »Literatur« durch Schriftlichkeit auszeichnet. Dichtung lebt von ihrer bildhaften Sprache und kunstvollen Lautgestaltung. Daher kann man z.B. Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883–85) hier ansiedeln und Nietzsche als »Dichterphilosophen« bezeichnen. – Das »Drama« als literarische Gattung neben Lyrik und Epik zeigt einen Konflikt in schriftlicher Darstellung oder unmittelbar auf der Bühne. Shakespeare stellt erstmals das Subjekt mit seinen innerpsychischen Konflikten – und nicht eine Handlungskette – in den Mittelpunkt des Dramas. Er stößt deshalb auf Sympathie bei Lessing, der in ihm einen genialen Schöpfergeist sieht. In der Dt. Klassik kommt es zum Höhepunkt des sog. Ideen-Dramas, in dem sich philosophische und weltanschauliche Ideen im konkreten Handeln und dialogischen Kommunizieren der Figuren manifestieren. Im naturalistischen Drama soll Wirklichkeit möglichst »naturgetreu«, d.h. auf der Erkenntnisgrundlage des Positivismus abgebildet werden (z.B. Zola), während der Impressionismus und Symbolismus die Beschreibung einer mittelbaren Welterfahrung postulieren. Im epischen Drama Brechts wird dem Mimesis-Prinzip mit der Verfremdungstechnik Einhalt geboten. Der Eindruck der Entfremdung wird noch gesteigert im absurden Drama seit 1950, in dem sich die in der Existenzphilosophie artikulierte Angst vor dem Nichts und die Ohnmacht angesichts der Sinnlosigkeit und Absurdität der Welt äußert.

Literatur:

  • E. Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern/München 51971.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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