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Metzler Lexikon Philosophie: Prognose

(1) Vorhersage von zukünftigen Ereignissen. Die Befugnis zur P. war in der vorrational-mythischen Zeit nur privilegierten Personengruppen, insbesondere den Priestern und Sehern, vorbehalten. Der Mensch verstand sich selbst als »zukunftsblind«, als Wesen, das nicht über den Tag hinausblickt (vgl. Semonides v. Amorgos Fr. 1). Eine begriffliche Vorstufe der P. ist die pronoia, die Vorsehung. Diese ist dem (normalen) Menschen nach Sophokles (König Ödipus 977 ff.) nicht gegeben. Auch nach Solon muss der Mensch ohne pronoesas (Voraussicht) auskommen. Mit der sophistischen Aufklärung des Zukunftshorizonts spielt auch die Prognostik als Mittel der (individuellen) Lebensplanung eine größere Rolle. Bei Platon (vgl. Theaitet 177 b) ist das Wissen um die Zukunft, die prodaxis, geradezu ein Kriterium für das Wissen: Wer einen in der Zukunft liegenden Sachverhalt richtig vorhersagen kann, gilt als wissender Fachmann und unterscheidet sich so von dem bloßen Laien. – P.n als wissenschaftlich begründete Aussagen über Entwicklungen und Eintreten künftiger Ereignisse spielen in heutigen Gesellschaften bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen eine große Rolle. In der angewandten Ethik gehören Risikoabschätzungen (z.B. bei der Technikfolgenbewertung) zu den Größen, die ein verantworteter Umgang mit Technik und Wissenschaft zu berücksichtigen hat.

Literatur:

  • M. F. Meyer: Philosophie als Messkunst. Münster 1994. S. 24–27.

MFM

(2) In P.n werden zukünftige Ereignisse aus gegenwärtig gegebenen Anfangsbedingungen unter Hinzunahme bestimmter Randbedingungen abgeleitet. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion von P.en spielt die von C. G. Hempel und P. Oppenheim vertretene Auffassung von der Strukturidentität von P. und Erklärung eine wichtige Rolle. Nach dieser Auffassung haben P.en dieselbe logische Struktur wie Erklärungen und unterscheiden sich allein in den pragmatischen Umständen. Danach erfolgen explanative und prognostische Aussagen nach denselben Erklärungsmodellen, d.h. nach der deduktiv-nomologischen oder nach der induktiv-statistischen Erklärung. Der pragmatische Unterschied besteht dann ausschließlich darin, dass das zu erklärende Ereignis (das Explanandum) bei Erklärungen bereits vorliegt, und die geeigneten Antezedensbedingungen und Gesetze nachträglich zur Verfügung stehen, aus denen man das Explanandum ableiten kann, während im Falle einer P. die Antecedensbedingungen und Gesetze gegeben sind und das Explanandum daraus abgeleitet wird, bevor das damit beschriebene Ereignis stattfindet (und das Ereignis in diesem Sinne erschlossen wird). Diese Auffassung enthält die beiden Annahmen, dass (a) jede adäquate P. auch eine mögliche Erklärung darstellt, insofern die adäquate P. auch als Erklärung hätte fungieren können, wenn sie nach dem Eintritt des Ereignisses erfolgt wäre, und (b) jede adäquate Erklärung auch als eine potentielle P. aufgefasst werden kann, insofern jede Erklärung auch vor dem Eintritt des Ereignisses hätte erfolgen können. Gegen die erste Annahme sind verschiedene Argumente vorgebracht worden, deren wichtigstes das sog. Ursachenargument ist: Eine adäquate Erklärung erfordert die Angabe von Ursachen (als hinreichende Bedingungen für das Eintreten des Explandum-Ereignisses). Ursachen sind dabei diejenigen Tatsachen, die in den singulären Antezedensbedingungen angegeben werden. Hingegen orientiert man sich bei einer P. an Symptomen. Da man bei einer Erklärung jedoch nicht allein Symptome heranziehen kann, handelt es sich bei einer adäquaten P. nicht zugleich um eine adäquate Erklärung. Unabhängig von der Diskussion um die Hempel’sche Auffassung wird die prognostische Kraft von Theorien gemeinhin als zentrales Merkmal ihrer Erklärungskraft angesehen. Die Erklärungskraft und die methodologische Dignität neuer Theorien bemisst sich vor allem darin, nicht allein einzelne Ereignisse, sondern darüber hinaus auch zuvor nicht entdeckte Gesetze vorhersagen zu können. Ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Geschichte der Physik bietet hierfür die Allgemeine Relativitätstheorie mit der P. der korrekten Größe der Lichtablenkung im Gravitationsfeld.

Literatur:

  • M. F. Meyer: Philosophie als Messkunst. Münster 1994. S. 24–27.

JH

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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