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Metzler Lexikon Philosophie: Pyrrhonismus

Auf Pyrrhon von Elis (ca. 360–270 v. Chr.) zurückgeführte, vor allem durch Ainesidemos von Knossos (1. Jh. v. Chr.) und Sextus Empiricus (3. Jh. v. Chr.) systematisch entwickelte Richtung des antiken Skeptizismus. Im Unterschied zu fast allen anderen antiken und modernen Formen des Skeptizismus ist das Ziel des P. ein praktisches: das frei von Beunruhigung dahinfließende Leben. Als entscheidendes Hindernis dieses glückseligen Zustands gelten den Pyrrhoneern Überzeugungen aller Art (dogmata), was nicht mit einer ethischen Theorie begründet, sondern durch die Erfahrung belegt wird, dass die Freiheit von Beunruhigung (Ataraxie) »wie ein Schatten« der Unfähigkeit zur Stellungnahme in Sach- und Wertfragen (Epoché, skeptische) folgt. Die Epoché ist keine Haltung, zu der sich der Pyrrhoneer aufgrund eines Räsonnements entschlösse, sondern etwas, das ihm widerfährt, sobald die pro und contra eines Standpunkts aufgebotenen Argumente in den »gleichwertigen Widerstreit« (Isosthenie) geraten. Mit gleicher Stärke gegeneinander gerichtet, neutralisieren sich die dogmatischen Meinungen, und die mit ihnen verbundenen Beunruhigungen verschwinden. Die Pyrrhoneer räumen zwar ein, dass nicht alles, was uns beunruhigt, auf dogmatische Meinungen zurückgeht, verweisen aber darauf, dass die übrigen, naturgegebenen Beunruhigungen entweder maßvoll oder nur von kurzer Dauer seien. – Das mithilfe ausgefeilter Argumentationsschemata (Tropen, skeptische) verfolgte Programm des P. besteht darin, bezüglich jeder Sach- und Wertfrage Isosthenie herzustellen, um zur umfassenden Epoché und mittels ihrer zur Ataraxie zu gelangen. Ob dies Programm Erfolg hat, muss sich im Einzelfall zeigen. Auf jeden Fall bleibt der Erfolg ungewiss, da ein Kausalzusammenhang zwischen Isosthenie, Epoché und Ataraxie konsequenterweise nicht angenommen werden kann. Die Pyrrhoneer fassen dies jedoch nicht als Mangel ihres Konzepts auf, sondern als unvermeidliche Folge der conditio humana. – Obgleich der P. nicht als philosophische Lehre, sondern als »Lebensform« (agoge) gelten wollte, ist er in der Antike schulbildend gewesen und konkurrierte mehrere Jahrhunderte lang mit dem Stoizismus (Stoa), dem Epikureismus und dem Skeptizismus der platonischen Akademie. In der Neuzeit wurde er nur noch sporadisch rezipiert. Zu den wenigen Denkern, die das pyrrhonische Konzept, dogmatische Meinungen um des guten Lebens willen zu entmachten, aufnehmen und unter den Bedingungen ihrer Zeit zu entfalten versuchen, zählen M. de Montaigne, P. Bayle, D. Hume (der den P. zwar als »excessive scepticism« kritisiert, de facto aber eine dem ursprünglichen P. sehr nahestehende Position vertritt), F. Nietzsche (der Pyrrhon als einzige »originale Figur« der nachsokratischen Philosophie bezeichnet), sowie O. Marquard (der die pyrrhonische Erfahrung der auf die Epoché folgende Ataraxie variiert zur Erfahrung der subjektiven Entlastung, die sich einstelle, wenn der Einzelne sich unter dem Druck seiner knappen Lebenszeit vom »Prinzipiellen« verabschiede).

Literatur:

  • M. Burnyeat/M. Frede (Ed.): The Original Sceptics. Cambridge 1997
  • Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übers. v. O. Apelt. Hamburg 1998
  • A. Engstler: Die pyrrhonischen Skeptiker. In: F. Ricken (Hg.): Philosophen der Antike II. Stuttgart 1996. S. 9–23
  • H. Flückiger: Die Herausforderung der philosophischen Skepsis. Untersuchungen zur Aktualität des Pyrrhonismus. Wien 2003
  • M. Hossenfelder: Stoa, Epikureismus und Skepsis. München 21995
  • O. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981
  • Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Übers. v. M. Hossenfelder. Frankfurt 52002.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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