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Metzler Lexikon Philosophie: Seele

Die Vorstellung einer vom Körper unterschiedenen Lebenskraft findet sich bereits bei sehr frühen Kulturen (Animismus). Die S. gilt als eine unsichtbare, in allem, was Wirkung und Bewegung hervorbringt, herrschende Kraft, die der tote Körper nicht mehr besitzt. Zumeist werden verschiedene »Seelentypen« bzw. Aspekte einer S. unterschieden. So etwa eine »Vitalseele«, die das allgemeine Prinzip des Lebendigen ist, eine »Ich-S.«, die die Persönlichkeit ausmacht, oder eine sog. »Freiseele« (oder Doppelgänger), die, obwohl dem Individuum zugehörig, relativ selbständig ist. In vielen Sprachen (griech. psyche, lat. anima, indisch atman) gehört S. in das Wortfeld »Wind, Hauch, Atem«, was auf das Atmen des lebenden Körpers, aber auch auf die Vorstellung eines nicht Greifbaren, Flüchtigen verweist. Die verschiedenen frühen Anschauungen über das Wesen der S. spiegeln bereits die Fragestellungen wider, denen sich die Philosophie zuwendet: Die S. kann als materiell oder immateriell, als sterblich oder unsterblich, als eigene Substanz oder Eigenschaft des Körpers gesehen werden.

In der philosophischen Tradition gilt die S. als das formgebende Prinzip des Lebens, die Weltseele als die den Kosmos durchdringende und ordnende Kraft. Sie fungiert außerdem als Einheitsbegriff der Akte des Denkens, Erinnerns, Wahrnehmens, Fühlens, Wollens, kurz der in der Innenwahrnehmung bewusstwerdenden Akte des eigenen Selbst. Aristoteles betrachtet die S. als erste Entelechie (Vollendung, Form) des lebendigen Körpers. Er unterscheidet eine vegetative S. als belebendes Prinzip (bereits bei der Pflanze vorhanden), eine sensitive S., die Wahrnehmung, Begehren und Selbstbewegung ermöglicht, und die erst beim Menschen auftretende Geistseele (nous; nochmals unterschieden in einen rezeptiven und einen tätigen Geist). Während die niederen Seelenformen an den Leib gebunden sind und somit mit dem Tod vergehen, ist die tätige Geistseele zwar unsterblich, aber dann nicht mehr individuell. – Platon unterscheidet drei Seelenteile beim Menschen: den Begehrenden, den Mutvollen und den Vernünftigen. Er nimmt eine Seelenwanderung an, während der die S. in ihrer vom Körper befreiten Existenz die Wesensformen alles Seienden (Ideen) geschaut hat. Die Wiedererinnerung an diese präexistente Schau ermöglicht die Erkenntnis des Wesens der Dinge. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, durch eine philosophische Lebensführung den vernünftigen Seelenteil zur Herrschaft über die anderen zu bringen. Umstritten ist, ob Platon nur die Unsterblichkeit des vernünftigen Seelenteils oder der S. als ganzer angenommen hat, da seine in mythischer Sprache gehaltenen Aussagen über die Prä- und Postexistenz der S. selbst nicht eindeutig sind. Darin spiegelt sich das Problem der Rede von »Seelenteilen« wider, das sich auch später durchhält, insofern nicht deutlich wird, ob es sich um jeweils eigenständige Substanzen handelt, oder um Vermögenseigenschaften, die z.B. bei den »niederen« Seelenteilen auch dem körperlichen eigen sein können. Im Timaios spricht Platon von einer den gesamten Kosmos erfüllenden Weltseele. – Bei den Stoikern wird die S., die ein Teil der Weltseele ist, stofflich gedacht, ebenso wie bei Epikur und sogar noch bei einem Teil der frühchristlichen Denker. Bei den Neuplatonikern steht die S. zwischen der Seinsstufe des Geistes, von der sie geprägt wird, und des Körperlichen, das sie ihrerseits prägt. – Die aristotelische Lehre verschiedener Seelenvermögen, die Unterscheidung von tätigem und rezeptivem Geist (Intellectus agens und possibilis), sowie die Frage nach der Unsterblichkeit eines Teils oder der ganzen S. prägen auch die ma. Diskussion. Das Verhältnis von Leib und S. bleibt umstritten. Thomas von Aquin vertritt die Einheit von S. (Form) und Leib (Stoff) im Menschen und unterscheidet mit der Tradition verschiedene Vermögen, wie Lebenskraft, Sinneswahrnehmung, Ortsbewegung, Trieb, Verstand. – Die ontologisch verstandene Schichtenlehre der S. kommt in der frühen Neuzeit emphatisch im Verständnis des Menschen als »Mitte der Welt« (Pico della Mirandola), als Mikrokosmos, in dem sich der Aufbau der gesamten Welt wiederfindet, zum Ausdruck. Der Mensch umfasst in sich alle ontischen Eigenschaften, von denen die anderen Wesen nur einen Teil besitzen: vom Anorganischen, über das Vegetative und Sinnliche, bis hin zum Geistigen.

Die Diskussion der Neuzeit ist weitgehend geprägt durch das von Descartes aufgeworfene Leib-Seele-Problem. Da Descartes die geistige (res cogitans) und die materielle Substanz (res extensa) als völlig getrennt betrachtet, erhebt sich die Frage, wie S. und Körper in Verbindung stehen können. Descartes beantwortete sie mit der Theorie der psychophysischen Wechselwirkung aufgrund derer psychische Phänomene körperliche verursachen können. Diese Antwort erscheint dann unbefriedigend, wenn man tatsächlich von einem strengen Dualismus zweier getrennter Substanzen ausgeht und wird u. a. vom Occasionalismus kritisiert, wenngleich nur mit Hilfe der ad hoc Konstruktion eines beständig eingreifenden Gottes gelöst. In der Folgezeit werden als Gegenpositionen zu einem Leib-Seele-Dualismus ein materialistischer Monismus, der die seelischen Phänomene als unselbständige Eigenschaft des Körperlichen betrachtet oder ein idealistischer Monismus, der umgekehrt das Körperliche als Erscheinungsform der S. auffasst, vertreten. – Kant hat die metaphysischen Seelentheorien als Paralogismus betrachtet und eine Erkenntnismöglichkeit der S. als einfache, unsterbliche, immaterielle Substanz verneint. Dagegen bleibt bei ihm die Unsterblichkeit der S. ein Postulat der praktischen Vernunft. In der Aufklärung vollzieht sich zunehmend die Abkehr von einem Verständnis der S. als eigener Substanz und sie erscheint als eine nur funktionale Einheit unterschiedlicher Momente. Die Bestimmung von S. findet sich im Umfeld verschiedener Begriffe, sei es Geist, Wille, Affekt, Gefühl, Unbewusstes oder Leben, je nach der besonderen Vorstellung, die man dem Seelenbegriff unterlegt.

In der modernen Psychologie und Anthropologie findet der Seelenbegriff wegen seiner metaphysischen und letztlich unausweisbaren Voraussetzungen zunehmend keine Anwendung mehr. An seine Stelle tritt die Beschreibung und Erklärung von Akten des Denkens, Fühlens, Vorstellens etc. und des Verhaltens. Allerdings bleibt dabei die Frage nach dem Grund der Identität des Ich, auf das sich diese Akte beziehen, noch offen. Ein weiteres gegenwärtiges Problem, das in der Tradition der Leib/S.-Diskussion steht, ist die Frage, wie das Verhältnis von geistigen Phänomenen und neurophysiologischen Prozessen zu denken ist, bzw. wie sich die Beschreibungsebenen von innerem Erleben und äußerlich konstatierbaren physiologischen Vorgängen vermitteln lassen. Es ist allerdings fraglich, ob im Rahmen dieser, sowie der Diskussion in der analytischen Philosophie, der tradierte Seelenbegriff zu recht im Spiel bleibt. Zu den letzteren Problemfeldern Bewusstsein, Funktionalistische Theorien des Geistes, Kognitionswissenschaft, Leib-Seele-Problem, Neurophilosophie.

Literatur:

  • G. Jüttemann u. a. (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991.

FPB

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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