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Metzler Lexikon Philosophie: Selbstsein

Der Begriff hat zentrale Bedeutung innerhalb der Existenzphilosophie und bezieht sich darauf, dass jeder Mensch über seine konkrete Seinsweise selbst entscheidet, seine Haltung, sein Denken und sein Leben gestaltet und darin selbstbestimmt oder fremdbestimmt sein kann. Ob der Einzelne sich zu sich selbst verhält und darin zum Bewusstsein dessen gekommen ist, was er selbst ist und sein will, oder vorgegebene Rollen, Wertungen und Handlungsmuster unbefragt übernimmt, kennzeichnet den Unterschied zwischen einer eigentlichen und uneigentlichen Existenzweise. – Kierkegaard bestimmt das Selbst so: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das am Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält« (Die Krankheit zum Tode, Ges. Werke, 24./25. Abtlg. S. 8). S. bedeutet das aktive Verhalten zu den Momenten, die das konkrete menschliche Leben bestimmen. Das S. kann verfehlt werden, was Kierkegaard mit dem Begriff der Verzweiflung, als eines Missverhältnisses im Selbstverhältnis fasst, und in der Krankheit zum Tode zu einer Typologie verzweifelter Existenzweisen ausbaut. Für Kierkegaard charakteristisch ist die christliche Ausrichtung seines Verständnisses von S.: Der Einzelne wird nur er selbst, indem er sich vorbehaltlos in Gott gründet. Kierkegaards Begriff des Selbst hat auch eine zeitkritische Dimension: Er richtet sich gegen das philosophische und gesellschaftliche Verschwinden des konkreten Individuums im System des reinen Denkens (Dt. Idealismus, besonders Hegel) und in der Vorherrschaft der Masse. Wo der Einzelne qualitativ seine Bedeutung verloren hat, versucht er sie quantitativ wiederzugewinnen in der Teilnahme am anonymen »Man«, dessen Meinen, Wünschen, Handeln. Diese Nivellierung erschafft ein neues Subjekt: das Publikum und dessen Organ: die Presse. Publikum entsteht in der Teilhabe an dem, was die Presse als allumfassende, anonyme »Wirklichkeit« erschafft, und an das sie sich als fiktive Wirklichkeit wendet. Der Einzelne ist darin kein Teil einer Gemeinschaft, gegenüber der er Verantwortung trägt, sondern verschwindet in der nicht zu fassenden »Öffentlichkeit«. Diese Analysen erinnern an Heideggers Begriff des Man. Das menschliche Dasein ist je seine Möglichkeit und kann sich daher in seinem Sein ergreifen oder verlieren. Es kann eigentlich es selbst sein (»Ich-selbst«) oder in der Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit des »Man-selbst« aufgehen. Auch bei Jaspers bezeichnet S. die je eigene Möglichkeit des Seinkönnens, über die sich der Einzelne in einem dauernden kommunikativen Bewusstwerdungsprozess und im Durchleben von Grenzsituationen Klarheit verschaffen muss. Das S. steht gegen die Nivellierungstendenzen einer technisch geprägten Massendaseinsordnung.

Literatur:

  • F.-P. Burkard: Selbstwahl. Zum Selbstverhältnis des Menschen bei Sören Kierkegaard. In: Struktur und Freiheit. Hg. v. G. Müller. Würzburg 1990. S. 38–59
  • M. Heidegger: Sein und Zeit (Gesamtausgabe Bd. 2). Frankfurt 1977
  • K. Jaspers: Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung. Berlin/Heidelberg/New York 41973
  • S. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (Ges. Werke. 24./25. Abtlg.) Düsseldorf 1954.

FPB

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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