Direkt zum Inhalt

Metzler Lexikon Philosophie: Verstehen

In einem allgemeinen Sinne kann man V. als eine Weise des Sinnerfassens erklären. Die Art des Sinnerfassens unterscheidet sich je nach Gegenstandsbezug. Es lassen sich (zumindest) vier grundlegende Formen des V.s ausmachen: das Sprachverstehen, das Handlungsverstehen, das V. von Erlebnisausdrücken, das V. von Ereignissen und Sachverhalten. Beim Sprachverstehen ist zu unterscheiden zwischen dem Erfassen des buchstäblichen Sinnes eines Wortes oder Textes und dem Erfassen des Satz-Sinnes in Bezug auf seinen Äußerungskontext. Zum Sprachverstehen gehört ebenso, einen Satz als Ausdruck einer bestimmten psychischen Verfassung des Sprechenden zu begreifen. Das V. eines Textes stellt jene Form dar, mit der sich die Hermeneutik beschäftigt. Das Handlungsverstehen kann sich darauf beziehen, wie man etwas macht, was gemacht wird und warum etwas gemacht wurde. Der erste Bezug stellt eine Lernsituation dar und erfordert technische Intelligenz. Beim zweiten Bezug ist es erforderlich, dass man entweder die Absicht der Handlung oder den Handlungstyp (bspw. das Unterschreiben eines Vertrages) oder die Handlungssituation begriffen hat. Um zu verstehen, warum etwas getan wurde, muss man die Handlungsabsicht in Bezug zu den situativen Umständen oder zu den persönlichen Einstellungen bzw. Charaktereigenheiten einer Person setzen können. Der Kontext der äußeren Umstände erlaubt eine Beurteilung der Handlung nach objektiv-rationalen Kriterien, der Kontext der persönlichen Einstellungen nach subjektiv-rationalen Kriterien. Das Sachverhalts- oder Ereignisverstehen zeigt sich in dem Verständnis, um welches Ereignis es sich gehandelt hat, oder warum das Ereignis eingetreten ist. Im letzten Fall berührt sich V. mit der Erklärung. Das V. von Erlebnis- und Gefühlsausdrücken zeigt sich, wenn ich einen Ausdruck als Gefühlsausdruck verstanden habe und gleichzeitig auch verstanden habe, um welchen Gefühlsausdruck es sich handelt. Um das Warum des Gefühlsausdrucks zu verstehen, benötige ich Kenntnisse zur Person und zu den situativen Umständen.

Neben diesen Formen des V.s kennzeichnet der Begriff auch eine spezifische Methode. Auch wenn die methodologische Unterscheidung zwischen »Erklären« und »Verstehen« explizit erst im Grundriss der Historik von Droysen ausgesprochen wurde, muss doch die Grundlegung der modernen Hermeneutik bei Schleiermacher gesucht werden. Er stellt die Frage nach allgemeinen Prinzipien der Auslegung und legt das Problem des V.s als ein allgemeines, erkenntnistheoretisches und methodologisches Problem offen, das sich dann einstellt, wenn Äußerungen als Zeichen für einen darin zum Ausdruck kommenden geistigen Gehalt zu erfassen sind. Das gilt für jede Art von Sprachverstehen. Schleiermacher geht davon aus, dass die symbolisierende Tätigkeit des Geistes den Charakter einer schöpferischen Synthese hat, die sich nicht auf den Bezeichnungscharakter der Sprache reduzieren lässt. Wenn Sinn nämlich seinem Wesen nach als Funktion eines individuellen Inneren aufgefasst wird, so tritt in der fremden Äußerung dem Hörer etwas seiner Individualität Fremdes entgegen. Das V. muss dann als die Kehrseite des Gebrauchs der Sprache zur Herstellung von Sinnzusammenhängen begriffen werden. Schleiermacher führt dazu zwei Aspekte des methodischen V.s an: zum einen die Fähigkeit zu einer produktiv entwerfenden Erfassung eines individuellen Zusammenhangs, zum andern das Vermögen, eine betreffende Rede in Vergleich zu bekannten Schemata und Bedeutungen zu bringen – die divinatorische und komparative Methode. Dieses doppelte Verfahren des Vorgreifens und Vergleichens lässt das V. zu einem nicht abschließbaren Prozess der Interpretation werden. Dilthey schließt hier an mit seiner Auffassung, das Phänomen des Geistigen sei an die Erfahrung des eigenen Bewusstseins gebunden. Er erweitert den Gegenstandsbereich des V.s über die Sprache hinaus auf jede Art individueller geistiger Tätigkeit. Er unterscheidet dazu zwischen elementaren und höheren Formen des V.s Bei den elementaren handelt es sich um Äußerungen und Äußerungsformen, bei denen die Beziehung zwischen Ausdruck und dem dadurch ausgedrückten Geistigen durch die traditionelle Einbettung in das gemeinsame Leben einer Gemeinschaft regelmäßig und vertraut geworden ist. Bei den höheren Formen des V.s geht es darum, die Bedeutung von Lebensäußerungen aus dem Ganzen des Lebenszusammenhangs einer Person zu verstehen. Ein solcher Übergang zum gesamten Lebenszusammenhang hat den Charakter des Induktionsschlusses.

Im Zuge der Überlegungen zum V. von Handlungen und zur Methodologie der Sozialwissenschaften zeigte es sich, dass der V.begriff in Bezug gesetzt werden muss zur Eigenart und den Bedingungen sozialer Erfahrung, die als Erfahrung von Subjekten in interaktiven kommunikativen Bezügen zu begreifen ist. Die für den Aufbau einer sinnhaft strukturierten Wirklichkeit und einer sozialen Lebenswelt konstitutiven Regeln, wie sie im Anschluss an Husserl von Schütz thematisiert wurden, geben die Grundlage für das V. der Handlungen anderer ab. Winch setzt im Anschluss an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen den Begriff »einer Regel folgen« als zentral an. Gadamers These vom Universalitätsanspruch der Hermeneutik verweist darauf, dass das V. die Vollzugsform menschlichen Soziallebens ist. Dadurch wird die geschichtliche Dimension allen Sinns und Sinnverstehens, in der sich Akteure und Interpreten gleichermaßen befinden, herausgestellt. Der Begriff der intentionalen Handlung, wie er im Schema des praktischen Syllogismus zur Geltung kommt, bietet nach Ansicht v. Wrights die Möglichkeit, sowohl die Handlung einer anderen Person, aber ebenso den Grund und die Rationalität der Handlung zu verstehen.

Literatur:

  • W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Ges. Schriften Bd. I. Stuttgart 71973
  • Ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Ges. Schriften Bd. V. Stuttgart 71982
  • Ders.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt 1970
  • H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 31972
  • J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt 1973
  • Th. Haussmann: Erklären und Verstehen. Frankfurt 1991. S. 132 ff
  • E. Kaleri: Die Grundlegung der modernen Hermeneutik durch Friedrich Schleiermacher. In: H. Lenk (Hg.): Philosophie und Interpretation. Frankfurt 1993. S. 44 ff
  • M. Riedel: Verstehen oder Erklären: Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften. Stuttgart 1978
  • F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt 1977
  • P. Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt 1966
  • G. H. v. Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt 1974.

PP

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.