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Metzler Lexikon Philosophie: Wahrnehmung

Man unterscheidet verschiedene Formen: W. durch unser Sensorium (sinnliche W., äußere Erfahrung), ästhetische W. oder begrifflich-geistige (innere) W. Im Alltagsgebrauch oder common sense-Verständnis nehmen wir die Dinge, äußere, bewusstseinstranszendente Phänomene, unbefangen für das, als was sie uns in unseren Sinnen gegenwärtig erscheinen, nämlich für real existierend; z.B. einen Ton, den man gerade hört und dessen Vibrieren man vielleicht zusätzlich spürt; eine Farbe, die man sieht; das Tintenfass vor ihm auf dem Schreibtisch, an dessen Wirklichkeit G. E. Moore keinen vernünftigen Grund zu zweifeln fand. Findet man diesen Ton, diese Farbe darüber hinaus auch noch als angenehm oder schön, bezieht man zum gehörten Ton, zur sinnlich wahrgenommenen Farbe bereits Stellung in ästhetischer Hinsicht. Insofern ist in ästhetischer W. eine sinnliche W. als deren Voraussetzung eingeschlossen. – Soll ästhetische W. auf den Begriff gebracht werden, bedarf es nichtsinnlicher, geistiger W. als Beurteilungskriterium von »Schönheit« oder »Kunst«. Diese Einteilung ist der abendländischen Tradition seit Aristoteles entnommen. Dieser traf die Unterscheidung in sog. sinnliche W. (aisthesis, sensus) und geistige W. (noesis, intellectus, einsichtiges Erfassen). Erstere ist, da in ihr die materialen sinnfälligen Dinge unmittelbar empirisch gegeben sind, Grundlage der zweiten, in welcher diese mit Hilfe der Vorstellung (phantasia) in ihrer intelligiblen Form und ihrem Wesen (ohne ihre Materie) erfasst werden. Die Vorstellung ist dabei dasjenige Medium, welches das Wahrgenommene in seiner qualitativen, nicht mehr in seiner stofflichen Natur, unabhängig von seiner tatsächlichen Präsenz oder Existenz, in sich aufnimmt und der geistigen W. zur (passiven) Rezeption und (aktiven, reflexiven) Apperzeption präsentiert. – Das alltägliche und ursprüngliche Verständnis von W. als direktes Präsenthaben von etwas durch die Sinne geht ein in wissenschaftliche Untersuchungen der W. Wird primär die Gegenstandsseite, das Gegenüber der W., so wie es sich den Sinnen darstellt, als »objektiv« angenommen, kann man von W. in noch naiver, naturalistischer Einstellung (Husserl) sprechen. In philosophischer Einstellung versteht man unter W. das Ereignis des Gewahrwerdens und den (mentalen) Zustand des Fürwahrhaltens und Einsehens von etwas. W. weist somit generell zwei intentionale Pole auf, die bewusste Fremd-Beziehung auf etwas als ihr Objekt und die gleichzeitig damit einhergehende Selbst-Beziehung (Aristoteles; Thomas v. Aquin). Eine Theorie der W. hat demgemäß beide Bezugsrichtungen zu eruieren. Je nachdem, welchem Pol der W. der Primat seiner Untersuchung gilt, kann man von eher gegenstandstheoretischer W.s-Psychologie respektive von Phänomenologie der W. selbst sprechen. – In der heutigen empirischen, experimentellen W.s-Psychologie werden insbesondere Aufbau, Prozesse und Leistungen sinnesphysiologischer (z.B. auditiver, akustischer, haptisch-taktiler) Systeme in Hinsicht auf das Wahrgenommene untersucht. Dabei gelten Sinnesdaten, Empfindungen, Vorstellungen und Gedächtnisinhalte nicht als isoliert gedachte Faktoren, sondern als das komplexe Ganze des Wahrnehmungserlebnisses konstituierende subsystemartige, leistungsfähige Teilinhalte. Sie bilden die Grundlage dafür, dass etwas (ein außerpsychischer Gegenstand) als sinnvoll, geordnet und gestalthaft erscheint. Stimmungslagen, Interessen, Erwartungen, Aufmerksamkeit sind Faktoren, die den Wahrnehmungsprozess von etwas spezifisch ausrichten und »färben« können. – Während bei der (nicht introspektiven) W.s-Psychologie die Erforschung des phänomenal Wahrgenommenen im Vordergrund steht, wird in der philosophischen Psychologie und Phänomenologie die Rezeptivität und Produktivität der W.s- Akte untersucht. Damit rückt, neben dem Objekt (Terminus) der W., insbesondere das Subjekt (Fundament) der W. in den Vordergrund. W. selbst zeigt sich introspektiv (im Sinne von Selbst-W., nicht von Selbst-Beobachtung) als komplexes Phänomen, denn sie weist intentional auf etwas außer sich als ihrem (primären) Gegenstand hin und hat sich zugleich selbst zum (sekundären) Gegenstand. Der außerpsychische Gegenstand der W. kann, muss aber nicht existieren. In phänomenologischer Einstellung kann (Brentano, Meinong), bzw. muss (Husserl) von ihm in Epoché abgesehen werden, nicht aber vom erlebten Inhalt bzw. dem immanentem Objekt oder dem inneren Gegenstand bzw. dem einwohnenden Datum der (inneren) W., dem Wahrgenommenen oder Gedachten als solchem, das den »äußeren« Gegenstand repräsentiert. Nach Meinongs gegenstandstheoretischer Version ist es nicht der wirkliche Kirchturm, über dessen Dasein uns die innere W. Auskunft gibt, sondern nur der »vorgestellte Kirchturm«. Wenngleich strittig bleibt, ob dieser Kirchturm als lediglich vorgestellter (und damit nicht real, sondern modifiziert) präsent ist (Meinong) oder ob eine reale Kirchturmvorstellung als Grundlage der inneren W. fungiert (Brentano) oder ob es sich dabei um ein ideales Datum am Horizont des Mitgemeinten handelt (Husserl), so ist doch jedesmal die Hereinnahme eines Objekts durch seine ursprüngliche Vorstellung ins Psychische, den Kompetenzbereich der inneren W., konstatiert; desweiteren, dass eine Vorstellungstätigkeit als fundierendes Moment der W. generell wahrnehmungsimplizit ist und die ihrer selbst bewusste innere W. dies wiederum verbürgt. – Dieser immanente Inhalt der W. kann weiter analysiert werden nach den Weisen, wie er der W. gegeben ist. Die Gegebenheitsweisen in der W. werden im Moment des Erfassens evident erlebt; als solche können sie kategorisiert und deskribiert werden. W. kann mithin als mit dem Wahrgenommenen gleichzeitiges, evidentes, urteilsartiges, für-wahr-nehmendes Ereignis in strengem Sinn des Wortes charakterisiert werden.

Die W. dieser höheren Denkvorgänge wurden besonders durch die Würzburger Denkpsychologie introspektiv erfasst, experimentell bestätigt und schriftlich fixiert. Nach Husserl greift dieser Ansatz zu kurz. Eine wissenschaftliche Psychologie der W. habe deren Leistungscharakter nicht durch experimentelle und psychophysische und sonstige Außenpsychologie, sondern qua intentionaler Innenpsychologie in ihrem apriorischen Wesen universal (die Allheit möglichen Bewusstseins überhaupt, bezogen auf die Allheit möglicher Gegenstände überhaupt) zu eruieren. Weist Husserl jede herkömmliche, natürlich-naive, positive W.s- Auffassung strikt ab, so wird alle introspektive W.s- Psychologie durch Watsons Behaviorismus, der sich wieder dezidiert als naturwissenschaftlicher Ansatz versteht, als unbeweisbar radikal zurückgewiesen. Seit der neueren sog. Kognitiven Wende (Th. A. Ryan u. a.) gegen den Behaviorismus unterliegen Untersuchungen des W.s-Prozesses innerhalb der Psychologie nicht mehr dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit. In der neueren Philosophie des Geistes wird W. in der Bedeutung referentiellen, propositionalen und selbstreferentiellen Wissens verwendet.

Literatur:

  • Aristoteles: De Anima III
  • Thomas von Aquin: Sentencia libri de sensu et sensato. (Aristoteleskommentar). In: Opera omnia. XLV, 2. Rom/Paris 1985
  • H. Bergmann: Evidenz der inneren Wahrnehmung. Halle 1908
  • F. Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Hamburg 1973
  • Ders.: Untersuchungen zur Sinnespsychologie. Hamburg 21979
  • D. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. 4. Abschn. 2. Teil. Stuttgart 1971
  • E. Husserl: Phänomenologische Psychologie. Hua IX. Den Haag 1968
  • A. Meinong: Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung. In: Gesamtausgabe II. Graz 1971. S. 377–469
  • M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin/New York 1966
  • Th. A. Ryan: Intentional Behavior. An Approach to Human Motivation. New York 1970
  • J. R. Watson: The Ways of Behaviorism. New York 1928.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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