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Metzler Lexikon Philosophie: Wertfreiheit

Das Postulat der W. geht auf M. Weber zurück, der diese Position erstmalig 1909 im sog. Werturteilsstreit mit Vehemenz artikulierte und deshalb gerade von Anhängern der »Frankfurter Schule« als Erzpositivist charakterisiert wurde. Bis heute hat das Prinzip der W. immer wieder Missverständnisse provoziert. Das Postulat besagt zunächst nichts anderes, als dass Wissenschaft Erkenntnisse für Problemlösungen und Nebenfolgen (z.B. Zielkonflikte zwischen Ökologie und Ökonomie) gewinnen solle. Wissenschaft kann die Probleme nicht entscheiden, sondern nur entscheidungsfähig aufbereiten, indem sie empirische und theoretische Alternativen artikuliert. Die Entscheidungen selbst müssen Politiker und Beamte treffen, die dafür die politische Verantwortung übernehmen müssen. Seins- und Sollensaussagen müssen also strikt getrennt werden. W. meint in diesem Sinne dann auch die Unabhängigkeit der Wissenschaft, die sich nicht in politische Vorgaben einbinden lässt. Hinter dem erkenntnistheoretischen Prinzip der W. verbergen sich aber noch andere Motive: (1) So plädiert Weber rigoros dafür, dass jeder wissenschaftlich Lehrende wissenschaftliche Zusammenhänge ohne Werturteile darzulegen habe. Er verbindet dies mit der Aufforderung, dass der Lehrende sich »treubleiben« müsse, dass er sich nicht täuschen und auch seine Studenten nicht mit »ethisch richtigen« Weltanschauungsfragen täuschen solle. Weber meint deshalb, »daß von allen Arten der Prophetie die in diesem Sinne ˲persönlich˱ gefärbte Professoren-Prophetie die einzige ganz und gar unerträgliche ist« (Weber 1973, S. 492). (2) Wie von Hennis immer wieder herausgestellt wurde, bedeutet W. auch, dass Wissenschaft »voraussetzungslos« und »unbefangen« sein müsse, d.h. sie muss frei sein von politischen oder ökonomischen Normvorgaben. Weber wendet sich damit gegen die seinerzeit in Hörsälen häufig anzutreffende Instrumentalisierung der Wissenschaft für politische Zwecke; er wendet sich dagegen, dass politische Positionen, die mit nationalistischen, rassistischen, biologistischen oder ähnlichen Argumentationsmustern arbeiten, zu wissenschaftlichen Einsichten hochstilisiert werden. Er wendet sich gleichfalls dagegen, dass liberale und demokratische Positionen (insbesondere die sozialdemokratische Arbeiterbewegung) in Hörsälen verdammt und verurteilt werden. Insofern hat Weber sein Wertfreiheitspostulat auch als ein kämpferisches Plädoyer gegen die Instrumentalisierung der Wissenschaft durch einseitige reaktionäre »Kathederwertungen« verstanden wissen wollen. (3) Das Wertfreiheitspostulat gewinnt aber noch in einem weiteren Sinne seine tiefere Bedeutung. Weber greift nämlich ebenso in die seinerzeit häufig geführten lebensphilosophischen Debatten nach dem Sinn des Lebens ein. In Webers Augen könne Wissenschaft niemandem eine Lebensorientierung bieten, sondern immer nur deren »empirischen Entstehungsbedingungen, Chancen und erfahrungsgemäß praktischen Folgen« herausarbeiten. Wertfreie Wissenschaft besteht in der Analyse von unterschiedlichen (religiösen, ökonomischen, ethischen, sexuellen etc.) Lebensorientierungen, aber nicht in deren Bewertung. Webers Plädoyer für die W. ist eben kein »Erzpositivismus« oder Dezionismus, sondern eher ein Ansinnen für wissenschaftliche Unbefangenheit und Offenheit, für Unabhängigkeit und Deutlichkeit der Alternativen – mit Sicherheit keine Verengung auf bloße Tatsachenfeststellung.

Literatur:

  • W. Hennis: Der Sinn der Wertfreiheit. Zu Anlaß und Motiven von Max Webers »Postulat«. In: O.W. Gabriel u. a. (Hg.): Der demokratische Verfassungsstaat. Theorie, Geschichte, Probleme. München 1993. S. 97–114
  • M. Weber: Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1918). In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 41973. S. 489–540.

RP

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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