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Metzler Lexikon Philosophie: Zeit

Die Z. ist mit Naturvorgängen und mit unserem Erleben und Handeln eng verknüpft. Der Umgang mit ihr ist vertraut, eine befriedigende Definition scheint jedoch unmöglich. – Zur Geschichte: Während die Vorsokratiker über Bleibendes und Veränderungen (Sein und Werden) nachdenken, wird die Natur der Z. zuerst bei Platon zum Thema, der z.B. die Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) charakterisiert. Aristoteles bestimmt die Z. als die »Zahl der Bewegung«. Zeitpunkte (»Jetzte«) sind nicht Einheiten der Z., sondern Grenzen von Zeitintervallen, deren Länge mit Hilfe der Himmelskörper gemessen wird. Plotin stellt die Z. der Ewigkeit gegenüber. Augustinus betont die Rolle des Bewusstseins in der Zeitwahrnehmung und erörtert die Gegenwart als Umschlagpunkt von Vergangenheit und Zukunft: Die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Auch aus theologischen Gründen argumentiert er für einen Anfang der Z., die mit der Welt geschaffen worden sei. – In der Neuzeit wird der Zeitbegriff zunehmend von der Physik bestimmt und oft parallel zum Raum diskutiert. Leibniz betont den relationalen Charakter der Z. (als Ordnung des Nacheinanderkommenden), während Newton sie als ontologisch selbständig (absolut) betrachtet. Nach Kant sind Raum und Z. keine Gegenstände, sondern Instrumente zur Ordnung aller Erfahrungen. Die Zeit ist kein Begriff, sondern eine »reine Form der Anschauung« (Transzendentale Ästhetik). Gegenwärtige Positionen: (1) Im Rahmen des Empirismus (etwa bei Reichenbach) wird die Zeitkonzeption entscheidend von Theorien der Physik beeinflusst. Mit Hilfe der Thermodynamik (Entropie) wird nach einer objektiven Basis für die Richtung der Z. (einem »Zeitpfeil«) gesucht. Üblicherweise wird diese Asymmetrie, d.h. die Auszeichnung einer Prozessrichtung (etwa beim Mischen von Tinte und Wasser), auf spezielle Anfangsbedingungen zurückgeführt. Neuerdings beansprucht Prigogine, sie auf der Gesetzesebene verankert zu haben (»Physik des Werdens«). Die Relativitätstheorie macht die Gleichzeitigkeit bezugssystemabhängig und unterstützt so die Auffassung, dass der »Fluss« der Z., das »Werden«, das Wandern des Jetzt-Punktes kein Gegenstück in der Physik hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass in der Welt eigentlich nichts »geschieht«. Die relativistische Kosmologie legt die Existenz eines Anfangs der Z. nahe. Im Zuge der Objektivierung des Zeitbegriffs entwickelt Reichenbach eine Kausaltheorie der Z., die die Zeitordnung auf die Reihenfolge von Ursache und Wirkung zurückführt. – (2) Ein wichtiger Zweig der Philosophie des 20. Jh. konzentriert sich auf die Zeiterfahrung des Menschen. Bergson setzt die qualitative, nur durch Intuition erfassbare erlebte Z. (»Dauer«) der an der Analogie zum Raum orientierten Z. der Physik entgegen. Husserl analysiert die immanente Z. des Bewusstseins unter Ausschaltung der objektiven Z. (Zeitbewusstsein). Nur durch Erinnerung und Erwartung schließt sich das gegenwärtig Erlebte zu einer Erlebnisganzheit (etwa einer Melodie). Heidegger hebt die Zeitlichkeit als einen Wesenszug des menschlichen Daseins hervor. Grundlegend ist die »Zukünftigkeit«, die Ausrichtung auf die Möglichkeiten des Lebens. – (3) Wichtige Begriffsklärungen bringen die Untersuchungen der Zeitsprache in der analytischen Philosophie (s. bei Bieri und Horwich): z.B. die Unterscheidung der Ordnung der Ereignisse nach der Relation »früher als«, die konstant ist, von der Ordnung nach vergangen, gegenwärtig, zukünftig, die sich laufend ändert (»zeitliches Werden«), sowie die Analysen zur Metapher vom »Fluss« der Zeit und zum »jetzt« als indexikalischem Ausdruck (vergleichbar zu »hier«). – Die verschiedenen Ansätze stehen noch unverbunden nebeneinander. Ist die Z. objektiv (real), oder existiert sie nur im Erleben der Menschen? Kann das Zusammenspiel von objektiven und subjektiven Faktoren durch eine Theorie des Selbstbewusstseins erfasst werden? Die Rolle der Z. in den Naturwissenschaften und in der Kulturgeschichte (vgl. Burger, Gumin/Meier, Fraser) führt zu einer Vielfalt von Fragen, deren Antworten die Philosophie vereinheitlichen und für den Umgang mit der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens fruchtbar machen muss.

Literatur:

  • Aristoteles: Physik IV 10–14
  • Augustinus: Confessiones XI
  • H. Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience. Paris 1889 (dt.: Zeit und Freiheit. Frankfurt 1989)
  • P. Bieri: Zeit und Zeiterfahrung. Frankfurt 1972
  • G. Böhme: Zeit und Zahl. Frankfurt 1974 (zu Platon, Aristoteles, Leibniz u. Kant)
  • H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt 1986
  • H. Burger (Hg.): Zeit, Natur und Mensch. Berlin 1986
  • J. T. Fraser: Die Zeit. München 1991 (mit Bibliographie)
  • H. Gumin/H. Meier (Hg.): Die Zeit. München 21990 (mit Bibliographie)
  • M. Heidegger: Der Begriff der Zeit. Tübingen 1989
  • P. Horwich: Asymmetries in Time. Cambridge (Mass.) 1987
  • E. Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hua X. Den Haag
  • H. R. Jauß: Zeit und Erinnerung in M. Prousts »A la recherche du temps perdu«. Frankfurt 1986
  • I. Kant: KrV B 46–58, B 176–187
  • P. Kroes: Time: Its Structure and Role in Physical Theories. Dordrecht 1985
  • Platon: Timaios
  • Plotin: Enneade III,7
  • H. Reichenbach: The Direction of Time. Berkeley/Los Angeles 1956 – L. Sklar: Space, Time, and Spacetime. Berkeley 1974
  • S. Toulmin/J. Goodfield: Entdeckung der Zeit. Frankfurt 1985 (London 1963)
  • H. Weinrich: Tempus. Stuttgart 1964
  • G. J. Whitrow: The Natural Philosophy of Time. Oxford 1980.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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