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Metzler Lexikon Philosophie: Zufall

Z. und Zufälligkeit (= Zk.) sind zu unterscheiden: Z. bezeichnet im Allgemeinen ontologischen Sinne diejenigen Ereignisse, die sich weder als gesetzmäßige Folge eines objektiven Kausalzusammenhangs noch als intendiertes Folgeereignis subjektiv-rationaler Planung erklären lassen, während Zk. bzw. das Attribut »zufällig« als modallogische Kategorie verwendet wird und als solche im Gegensatz zur Notwendigkeit steht. Z. entspricht etwa dem griech. tyche und dem lat. casus. Mit Zk. werden griech. endechomenon und lat. contingentia übersetzt: Zk. entspricht sachlich dem älteren lat. Terminus Kontingenz, der begriffsgeschichtlich auf griech. endechomenon zurückgeht. Die Begriffsgeschichte von dt. Z. resp. Zk. ist jedoch unklar. Zwei Ableitungen kommen in Betracht: Z. ist einmal eine Lehnübersetzung aus Akzidens (lat. accidens, von accidere, wörtlich: zufallen). Z. lässt sich in Form von »Kontingenz« historisch jedoch ebenfalls ableiten von lat. contingentia (contingere, wörtlich: »sich berühren«, »zusammenfallen« im örtlichen Sinn). Für die Herkunft von »contingentia« spricht die etymologische Verwandtschaft sowie die inhaltliche Nähe zu Kontingenz im modallogischen und metaphysischen Sinne als Gegensatz zum Notwendigen. Für Z. als Äquivalent von »Akzidens« spricht der ontologische Aspekt des Z.s als desjenigen, das nicht im Wesen der Sache, der Substanz als Analogon zu griech. ousia, begründet ist. Offenbar sind in der philosophischen Bedeutung von Z. und Zk. beide terminologischen Stränge verflochten, was die Synonymie zu Kontingenz, und ebenso zu Akzidens als Bezeichnung des Nicht-Wesenhaften einer Sache, erklärt.

Endechomenon heißt bei Aristoteles zunächst etwa dasselbe wie dynaton: möglich. In Peri hermeneias erörtert Aristoteles endechomenon unter der Frage nach dem Verhältnis von Möglichkeit und Notwendigkeit. Als logischer Begriff steht er in den Analytica Priora im Gegensatz zur Notwendigkeit. Diese Distinktion gründet sich auf den metaphysischen Begriff Möglichkeit oder Vermögen (dynamis). Zugleich erscheint endechomenon im Sinn von Zk. als symmetrisch verteilte Möglichkeit dessen, dass etwas existiert (ist): Etwas kann der Möglichkeit nach entweder sein oder nicht sein. In Peri hermeneias heißt es, »daß nicht alles [Seiende] notwendig ist oder entsteht, sondern das eine [ist so beschaffen], wie es eben zufällig kommt [also auch wesenhaft anders sein könnte], so daß weder die Bejahung noch die Verneinung einen Vorzug der Wahrheit hat« (9, 19a 18–22). Zu beachten ist, dass die Wahrheitswerte wahr/falsch und ebenso die Modalterme möglich/notwendig bei Aristoteles nicht allein logische Attribute von Urteilen sind, sondern zugleich eine ontologische Bedeutung haben. – Im MA. kündigt sich in den Kommentaren zu Peri hermeneias eine Bedeutungsverengung von Kontingenz, fortan für endechomenon verwandt, an, indem Zk. oder Kontingenz im strikten Gegensatz steht zur Notwendigkeit. Modale Zk. und Z. sind der Sache nach getrennt, wobei Zk. der weitere Begriff ist. Die Definition von Zk. hängt zusammen mit dem Widerspruchsprinzip. Kontingent, mithin zufällig ist nach Thomas v. Aquin, »quod potest esse et non esse« (S. th., I, 86 3c). Z. meint bei Thomas im Anschluss an Aristoteles in Form von lat. casus eine von drei Gattungen kontingenter Ereignisse, und zwar solche, die auf Z. oder Glück beruhen (a casu vel fortuna). Zk. hat in der frühen Neuzeit stets einen logisch-metaphysischen Doppelcharakter, der letztlich in der theologischen Prädestinationslehre fundiert ist (Th. v. Aquin und später Wolff, Leibniz). Leibniz erörtert zudem das Problem Determination und freie Handlung, das sich bei ihm aus seiner Kritik des Cartesianischen Substanzbegriffs ergibt. Mit Kant findet schließlich der dt. Begriff Zk. als Äquivalent zu Kontingenz Eingang in die philosophische Tradition. Zk. erscheint im Begriffspaar Notwendigkeit-Zk. in der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft. Zk. ist im Bereich Modalität der Kategorientafel die Negation zu Notwendigkeit und somit eine Urteilsmodalität. Empirische Urteile beziehen sich auf Zufälliges. Dies zufällig Existierende: das »im Dasein bedingte«, kann durch ein Urteil nur bestimmt, d.h. »begriffen« werden durch Beziehung auf eine Ursache, d.h. im Rückgriff auf Kausalität. Zk. ist ebenfalls von Bedeutung in der »Antinomienlehre« der Transzendentalen Dialektik: »Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist« (KrV, B 488). Aus der empirischen Zk. könne jedoch nicht auf intelligible Zk. geschlossen werden.

Literatur:

  • D. Frede: Aristoteles und die »Seeschlacht«. Göttingen 1970
  • M. Meyer: Philosophie als Meßkunst. Münster 1994. S. 14–45
  • H. Schepers: Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz. In: E.-W. Böckenförde u. a.: Collegium Philosophicum. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Basel u. a. 1965.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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