Lexikon der Psychologie: Sinnrekonstruktion, subjektive
Sinnrekonstruktion, subjektive, zielt darauf ab (und ist Aufgabe des Forschers), das erhobene Datenmaterial so auszuwerten, daß sich am Ende des Auswertungsprozesses das Alltagshandeln von spezifischen Akteuren in seinen psychologischen und soziologischen Motivationen deutend nachvollziehen läßt. Der Forscher hat gelernt, die Welt der jeweils zu erforschenden Personengruppe (es geht bei diesem Forschungsansatz ja gerade nicht um die Auffindung oder Überprüfung “allgemeiner Gesetzmäßigkeiten") aus deren Blickwinkel zu sehen und auf diese Weise “zu verstehen'”. Ein Qualitätskriterium dieses Forschungsansatzes, der sich eng an die ”sozialwissenschaftliche Phänomenologie” (Schütz und Luckmann) und den Symbolischen Interaktionismus" anlehnt, könnte dann z.B. darin liegen, daß man sich nach der Lektüre eines einschlägigen Forschungsberichtes in einer einem vorher fremden Subkultur bewegen kann, ohne “aufzufallen”: Man ist dann offenbar mit dieser Lebenswelt vertraut. Für die Auswertung bedeutet dies im wesentlichen, das erhobene, meist sehr umfangreiche verbale und/oder visuelle Material zu sichten (mehrmals und intensiv durchzulesen) und sodann in einem mehrstufigen Kodierprozeß immer weiter zu verdichten, bis am Ende die zentralen handlungsleitenden Weltbilder und Normen vor Augen stehen (qualitative zusammenfassende Inhaltsanalyse). Unter Kodierung ist dabei eine Art Verschlagwortung zu verstehen: mehr oder minder bedeutungsgleiche Textstellen werden bestimmte Sinnetiketten (= Kodes) zugewiesen, unter denen sie jeweils wieder auffindbar sind. Diese Sinnetiketten (Paraphrasen, in denen der Inhalt bestimmter Textstellen in einer neutralen und knappen sprachlichen Form zusammengefaßt wird) werden zu Beginn sehr nahe an den vorliegenden qualitativen Daten gebildet (“offenes Kodieren”). In mehreren Durchläufen durch das gesamte erhobene Material werden diese Kodes dabei zum einen, wenn sie sich als zu unspezifisch erweisen, weiter ausdifferenziert, zum anderen, wenn sie sich wiederum als zu spezifisch erweisen, aber auch zu Metakodes gebündelt (”axiales Kodieren”; axial meint hier, daß sich im Verlauf des Kodierprozesses nach und nach Hauptachsen herauskristallisieren, entlang derer sich die zentralen Deutungsmuster einer Lebenswelt organisieren). Am Ende finden die mittlerweile miteinander verbundenen, verschiedenen Kodes Eingang in eine sie umfassende ”gegenstandsbezogene Theorie”, in der jeder Kode seinen Stellenwert hat (”theoretisches Kodieren”). Wie schon bei der Datenerhebung kommt auch bei dieser Form der Datenauswertung (die wie gesagt bei diesem Vorgehen ohnehin häufig mit der Datenerhebung einhergeht) der vergleichenden Fallgegenüberstellung (”Fallkontrastierung”) ein hoher Stellenwert zu. Eine minimale Fallkontrastierung liegt vor, wenn Fälle sich in der Mehrzahl der Merkmale ähnlich sind und sich nur in einem oder wenigen Merkmalen voneinander unterscheiden; eine maximale Fallkontrastierung liegt von, wenn zwei Fälle sich sehr unähnlich sind, sich also in sehr vielen Merkmalen voneinander unterscheiden. Analysierte Fälle, die eine hohe Zahl übereinstimmender Kodes aufweisen, werden im Anschluß an die Kodierung zumeist zu Typen zusammengefaßt; bei dieser Typenbildung werden nach innen maximal homogene und nach außen maximal heterogene Cluster herausdestilliert. Die hier zugrundeliegende Forschungslogik entspricht im wesentlichen der der Clusteranalyse. Wenngleich manche qualitativen Forscher dies vielleicht als ein Sakrileg auffassen mögen, sei doch nicht unerwähnt, daß es für diese Form der qualitativen Datenanalyse mittlerweile auch schon recht leistungsfähige Computerprogramme gibt (z.B. WINMAX oder ATLAS/ti), die nicht nur eine Menge Routinearbeit übernehmen, sondern auch einer kreativen hermeneutischen Analyse viele fruchtbare Hinweise liefern können.
H.Gi.
Literatur
Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.).(1973). Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 2 Bände. RoRoRo Studium. Reinbek: Rowohlt.
Kuckartz, U. (1992). Textanalysesysteme für die Sozialwissenschaften: Einführung in MAX und TEXTBASE ALPHA. Stuttgart: Fischer.
Mayring, Philipp (1990): Einführung in die qualitative Sozialforschung. München: Psychologie Verlags Union.
Schütz, A. & Luckmann, T. (1984): Strukturen der Lebenswelt. 2 Bände. Frankfurt: Suhrkamp.
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