Lexikon der Psychologie: Verkehrspsychologie
Essay
Verkehrspsychologie
Herbert Gstalter
Gegenstandsbereich
Menschen verlassen aus unterschiedlichen Gründen ihre Wohnung und begeben sich an andere Orte, entweder zu Fuß oder mit Hilfe von Verkehrsmitteln. Jede “außerhäusige” Ortsveränderung wird als Mobilitä2} bezeichnet. Die Mobilitätsforschung versucht die Frage zu beantworten, welche Personen(gruppen) zu welchen Zwecken wann, wie häufig, auf welchen Wegen und mit welchen Verkehrsmitteln diese Mobilität erzeugen. Wesentliche Teilbereiche der Mobilität sind der Berufsverkehr und der Freizeitverkehr. In der Verkehrswissenschaft werden räumlich und zeitlich abgegrenzte Gesamtheiten von Ortsveränderungen als Verkehr bezeichnet; das dabei gezeigte Verhalten ist Gegenstandsbereich der Verkehrspsychologie. Dieses Verhalten spielt sich in einem System ab, dessen Hauptkomponenten die Verkehrsteilnehmer, die Verkehrsmittel und die Verkehrssituationen darstellen. Überwiegend wird der manifest zu beobachtende motorisierte Individualverkehr betrachtet, weil er bei weitem die größte Transportleistung erbringt, aber auch erhebliche Schäden an Leben, Gesundheit und Umwelt hervorruft. Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an den Ursachen der Verkehrserzeugung (Mobilität) und psychischen Prozessen bei der Verkehrmittelwahl gewachsen. Das Verhalten von Fußgängern und Radfahrern sowie psychologische Fragestellungen zum Verkehr auf Wasserwegen, Schiene und in der Luft sind eher randständige Themen bzw. abgekoppelte Arbeitsgebiete von Spezialisten.
Modellvorstellungen zum Autofahren
Die vom Autofahrer im Verkehrssystem zu erledigende Aufgabe gliedert sich in drei hierarchische Ebenen: Navigation, Bahnführung und Stabilisierung ( Abb. 1 ).
Den Anforderungen der Fahraufgabe können die kognitiven Prozesse des Fahrers bei ihrer Bewältigung zugeordnet werden. Auf der Ebene des fertigkeitsbasierten Verhaltens findet eine vorbewußte Signalverarbeitung statt, die für viele Anforderungen der Bahnführungs- und Stabilisierungsebene typisch ist. Regelbasiertes Verhalten beruht auf Wiedererkennen gespeicherter Reizkonstellationen, die mit “wenn-dann-Regeln” zu Fahrhandlungen verknüpft sind (z.B. Fahren bei Seitenwind). Für die Bewältigung der Navigationsaufgabe sind wissensbasierte Verhaltensweisen erforderlich, die komplexe Entscheidungen und Planungsprozesse enthalten. Psychologisch orientierte Theorien zum Fahrverhalten versuchen Aussagen über innere Zustände der Verkehrsteilnehmer zu explizieren, z.B. Einstellungen, wahrgenommene Risiken, Erfahrungen, Emotionen, Erwartungen, Motive. Eine einheitliche Modellvorstellung zum Fahrverhalten gibt es nicht, dazu ist die Vielfalt von gleichzeitig wirksamen Determinanten im System Verkehr zu groß. Gemeinsame Elemente der meisten Theorien sind die objektive Verkehrssituation, ihre Wahrnehmung durch den Fahrer, die Handlungen als motorische Reaktionen und die dadurch bewirkte veränderte Verkehrssituation, die gleichzeitig die Eingangsgröße für eine neue Regelungsschleife darstellt. Dagegen unterscheiden sich die Modelle nach den angenommenen Sollwerten, die den Regelkreis steuern. Die Risikohomöostasetheorie postuliert z.B. ein konstantes akzeptiertes Risikoniveau als Sollwert. Verwandte Konzepte sind aus streßtheoretischer Perspektive entwickelt worden; danach versucht ein Fahrer die Verkehrssituation so zu gestalten, daß er bei ihrer Bewältigung ein ihm angenehmes Beanspruchungsniveau beibehält bzw. wieder herstellt ( Abb. 2 ). Die kognitiven Prozesse, die zwischen der Wahrnehmung einer Situation und den Bedientätigkeiten ablaufen, sind also für die einzelnen Theorien kennzeichnend. Einen Überblick zu psychologischen Modellen des Fahrverhaltens gibt Ranney (1994).
Das Fahrverhalten wird also einerseits durch die Verkehrssituationen bestimmt, andererseits über den Sollwert eines Regelkreises, dessen individuelle Ausprägung von den Personenmerkmalen abhängt ( Tab. ).
Im Verkehrssystem soll die Transportaufgabe möglichst effizient, umweltschonend und sicher bewältigt werden. Während die Effizienz Domäne der Verkehrstechnik ist, beschäftigt sich die Verkehrspsychologie mit ökologischen Fragestellungen (z.B. Verkehrsmittelwahl), aber vor allem mit Verkehrssicherheitsfragen. Dabei sind noch große methodische Lücken zu schließen. Insbesondere fehlt eine Aufgabenanalyse, die es ermöglichen würde, ein Sollverhalten der Verkehrsteilnehmer zu definieren und damit eine geeignete Operationalisierung des sicheren Fahrens zu schaffen. Statt dessen wird die Fahrleistung meist über negative Ereignisse (Fahrfehler, Regelverstöße, Verkehrskonflikte, Unfälle) indirekt beurteilt. Wachsende Bedeutung kommt dabei den Fehlerzähltechniken (Fahrverhaltensbeobachtung) zu, die auf dem Zuverlässigkeitsansatz der Ergonomie beruhen und sowohl im Feldversuch als auch in der Fahrsimulation verwendet werden können. Versuche der objektiven Messung der Fahrleistung (z.B. die technische Erfassung der Genauigkeit bei der Längs- und Querregelung) stellen Interpretationsprobleme und weichen oft von subjektiven Experteneinstufungen des Fahrverhaltens ab, könnten aber eine wichtige Ergänzung darstellen, wenn sie situationsbezogen bewertet werden (statt als aggregierte Meßgrößen über längere Fahrten). Besondere Bedeutung gewinnt die Leistungsbeurteilung bei Fahrerassistenzsystemen, in denen die Funktionsverteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug (teilweise auch der Fahrumgebung) durch den Einsatz neuer Technologien geändert wird (z.B. automatische Regelung des Längsabstandes, Navigationshilfen, Spurwechselassistenten). Eine besondere Rolle spielt dabei die Gestaltung der Schnittstellen zwischen Fahrer und System (Human Factors Engineering). Hier ist eine empirische Prüfung der Wirkungen auf die Zuverlässigkeit der Fahrer unerläßlich, da sich Vorteile (Entlastung des Fahrers) und mögliche Risiken (Informationsüberlastung, Ablenkungseffekte) nicht a priori theoretisch vorhersagen lassen.
Fahreignung und Verkehrstüchtigkeit
Die Mehrzahl der Verkehrspsychologen befaßt sich mit der Diagnose der Fahreignung als relativ dauerhafter individueller Verhaltensdisposition. In Zusammenarbeit mit Medizinern geht es um die Feststellung einer hinreichenden Eignung (positive Auslese, z.B. Fahrgastbeförderung, Fahrlehrer, vorzeitige Führerscheinerteilungen) bzw. eines Eignungsmangels (negative Auslese, z.B. bei gehäuft aufgetretenen Verkehrsdelikten, mehrfachem Versagen im theoretischen Teil der Fahrprüfung, körperlichen Defekten). Zur Prognose der Fahreignung werden psychologische, biographische und medizinische Informationen zusammengestellt, die aus ärztlicher Untersuchung, Fragebogen und apparativen Tests, Dokumentenanalyse und Exploration stammen. Eine Darstellung des rechtlichen Rahmens der Fahreignungsdiagnostik und der einzelnen methodischen Schritte zur Gutachtenerstellung in Deutschland findet man bei Kroj (1995). Die wichtigsten Prädiktoren der Fahreignung sind:
1) Psychologische Daten: visuelle Wahrnehmungs- und Orientierungsleistungen, selektive Aufmerksamkeit, Konzentrationsleistung, Leistung in Wahlreaktionsversuchen, Verhalten bei Fahrproben, Feldabhängigkeit.
2) Biographische Daten: Lebensalter, Fahrpraxis, (verkehrs-)delinquentes Verhalten, berufliche und familiäre Situation, Gesundheitsdaten.
Die wichtigsten biographischen Merkmale zur Abschätzung der Fahreignung sind Lebensalter und Fahrerfahrung. Größere Risikobereitschaft und geringe Fahrerfahrung werden für das stark erhöhte Unfallrisiko junger, insbesondere männlicher Fahranfänger verantwortlich gemacht. Mit steigendem Alter und zunehmender Fahrpraxis nimmt das Unfallrisiko ab, um bei höherem Alter mit sinkender Leistungsfähigkeit der Fahrer wieder anzusteigen (Autofahrer, ältere). Die langfristig wirkenden Fähigkeiten und Fertigkeiten der Verkehrsteilnehmer bestimmen deren prinzipielle Eignung zum Autofahren; diese wird aber durch fahrtspezifische und situationsspezifische Faktoren überlagert, die die momentane Verkehrstüchtigkeit determinieren (z.B. Alkohol- oder Drogeneinflüsse, Müdigkeit, Ablenkungseffekte).
Überragende Bedeutung hat die Wirkung von Alkohol auf die Verkehrstüchtigkeit. Eine Vielzahl von Untersuchungen hat die Fahrleistung bei unterschiedlichen Blutalkoholkonzentrationen untersucht. Mit zunehmender Alkoholisierung werden die folgenden psychischen Funktionsbereiche beeinträchtigt: Wahrnehmungsleistungen, kognitive Funktionen, Feinmotorik, Grobmotorik. Erschwerend wirkt außerdem die Diskrepanz zwischen objektivem und subjektivem Alkoholisierungsgrad und damit die Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. Daher steigt mit zunehmender Alkoholisierung auch das Unfallrisiko an: Es verdoppelt sich gegenüber nüchternem Fahren bei 0,6 Promille, bei 1 Promille ist es bereits auf das 6fache gestiegen, bei 1,5 Promille auf das 25fache. Der Bedeutung des Problems Alkohol am Steuer entsprechend gibt es viele Versuche der Einflußnahme; Aufklärung und Verkehrsüberwachung, rechtliche Regelungen und Nachschulungen, in denen verkehrsdelinquente Personen (überwiegend Fälle von Alkohol am Steuer, aber auch “Punktesammler”) psychologisch betreut werden.
Für die Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit durch diverse Medikamente, inbesondere in Wechselwirkungen untereinander und mit Alkohol, ergibt sich ein weniger klares Bild; hier besteht noch Forschungsbedarf. Einschränkungen der Fahrtüchtigkeit durch Müdigkeit (sei sie als Ermüdung durch lange, monotone Fahrten oder unabhängig von der Verkehrsteilnahme entstanden) sind ein Problem insbesondere von Vielfahrern und Berufskraftfahrern. Leider wurde bisher kein wirklich verläßliches Maß gefunden, mit dem einsetzende Ermüdung physiologisch rechtzeitig erfaßt werden kann, um warnende oder eingreifende Maßnahmen einzuleiten, so daß die Sicherheitsarbeit hier noch weitgehend auf Aufklärung und Überzeugungsarbeit setzen muß.
Weitere Gebiete verkehrspsychologischer Arbeit
Hauptarbeitsgebiet von Verkehrspsychologen ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Diagnostik der Eignung zum Führen von Fahrzeugen. Auch heute wird diese Aufgabe vom überwiegenden Teil der Verkehrspsychologen wahrgenommen. In Deutschland sind ca. 1000 Personen mit der Ermittlung oder Verbesserung (“Nachschulung”) der Fahreignung beschäftigt (Medizinisch-Psychologische Untersuchung – MPU) (Verkehrsresozialisation). Obwohl psychologische Fragestellungen und Methoden auch in anderen verkehrsrelevanten Teilgebieten eine Rolle spielen, hat sich sonst nirgends eine vergleichbare Entwicklung der Profession der Verkehrspsychologen entwickelt. Nur kleinere Institute und einzelne Psychologen beschäftigen sich mit verkehrspädagogischen Inhalten (Verkehrserziehung, Kampagnen, Trainingskurse, Verkehrsüberwachung) oder Grenzgebieten zu den Verkehrsingenieurwissenschaften (Straßen- und Fahrzeuggestaltung, Verkehrslenkung); hier wird überwiegend interdisziplinär und eher forschungsorientiert gearbeitet.
Literatur
Donges, E. (1984). Aspekte der aktiven Sicherheit bei der Führung von Personenkraftwagen. Automobilindustrie, 2, 183-190.
Klebelsberg, D. (1982). Verkehrspsychologie. Berlin: Springer.
Kroj, G.(Hrsg.). (1995). Psychologisches Gutachten Kraftfahreignung. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag.
Ranney, T.A. (1994). Models of driving behaviour: A review of their evolution. Accident Analysis and Prevention, 26, 733-750.
Abb. Verkehrspsychologie 1. Hierarchische 3-Ebenen-Struktur der Fahrzeugführungsaufgabe (nach Donges, 1982)
Abb. Verkehrspsychologie 2. Ein streßtheoretisches Fahrermodell.
Tab. Verkehrspsychologie. Systemleistung.
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