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Abitur ohne Naturwissenschaften?


Möglicherweise noch in diesem Dezember, spätestens aber in wenigen Monaten entscheidet die Ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) der Bundesländer über eine Reform der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs. Dabei sollen zunächst die inhaltlichen Kriterien der allgemeinen Hochschulreife neu festgelegt werden, um später die Dauer der Schulzeit bis zum Abitur bundeseinheitlich regeln zu können (gegenwärtig beträgt diese in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zwölf, in den anderen Bundesländern 13 Jahre).

In verschiedenen Zwischenberichten der KMK und Stellungnahmen einer Expertenkommission wurden die grundlegende Struktur der mit der Jahrgangsstufe elf beginnenden gymnasialen Oberstufe, ihre Ziele und Aufgaben angesichts veränderter politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sowie erforderliche Qualifikationen der Abiturienten und Auflagen für bestimmte Fächer diskutiert (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1995, Seite 117). Demnach sei es unter anderem erforderlich, der "Herausbildung von Einstellungen und Verhaltensweisen für das selbständige und fächerübergreifende Lernen sowie der Stärkung der sozialen Kompetenz und der Kooperationsfähigkeit mehr Beachtung zu schenken als bisher". Um den Abiturienten eine vertiefte allgemeine Grundbildung zu ermöglichen und sie für das Studium zu befähigen, soll – so ein Vorschlag – ein verpflichtender Kernbereich mit den Fächern Deutsch, einer Fremdsprache und Mathematik eingeführt werden.

Derartigen Überlegungen ist sicherlich zuzustimmen. Ungewiß ist jedoch noch, welchen Stellenwert die KMK den Naturwissenschaften beimißt. Die bisherigen Erklärungen lassen jedenfalls befürchten, daß naturwissenschaftliche Fächer in den letzten Schuljahren abgewählt werden können und nicht mehr Bestandteil der Abiturprüfungen zu sein brauchen.

Sollte eine solche Regelung tatsächlich umgesetzt werden, wäre dies sehr bedenklich. In einer industriellen Gesellschaft, deren Zukunft in zunehmendem Maße von naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnissen ihrer Mitglieder abhängt, ist eine grundlegende Vertrautheit mit physikalischen, chemischen und biologischen Vorgängen und Prinzipien unerläßlich. Naturwissenschaften sind die Basis der technischen Entwicklung und ihrer Akzeptanz. Nur wer den erforderlichen Kenntnisstand mitbringt, vermag Zusammenhänge zu erkennen und objektive Schlußfolgerungen zu ziehen. Wie sollen gesellschaftlich relevante und für die Lösung ökologischer und ökonomischer Probleme wichtige Themen wie Energieversorgung, Umweltverschmutzung und Klimawandel sachgerecht diskutiert werden können, wenn die maßgeblichen Grundkenntnisse nicht vorhanden sind? Wie ist es möglich, die Debatte um gentechnisch veränderte Nahrungsmittel zu entideologisieren, wenn kaum jemand weiß, auf welche Weise die eingesetzten Verfahren in das Erbgut eingreifen und was sie letztlich im Organismus und im Ökosystem verändern können?

Eine alleinige Fixierung auf eine mathematische Ausbildung im Pflichtbereich des mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Aufgabenfeldes der gymnasialen Oberstufe würde die Konturen der Naturwissenschaften verzerren. Die Mathematik stellt zwar einen Formalismus bereit, der so etwas wie eine grundlegende Sprache ist, auf der insbesondere die Physik, aber auch andere Disziplinen aufbauen; wesentlich ist aber, daß die Naturwissenschaften in dieser Sprache inhaltliche Aussagen formulieren, die es zu interpretieren und zu verstehen gilt. Dies ist nur durch eine ausreichende Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Denkmodellen möglich.

Das Interessante und gegenüber den Humanwissenschaften so andere an den Naturwissenschaften ist, daß sie Methoden entwickeln, mit denen sich Gesetzmäßigkeiten aufdecken lassen. Aus diesen wiederum vermag man Vorhersagen zu treffen, die experimentell überprüft werden können. Im beständigen Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment wächst so nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern offenbaren sich zugleich die Gültigkeitsbereiche der verwendeten Modelle.

Daraus ist zu lernen, daß man von den Naturwissenschaften nicht einfach Daten abrufen oder simple Lösungen für komplexe Probleme erwarten darf. Das Lehrbuchwissen ist durch ein Verständnis der Zusammenhänge zu vervollständigen.

Für alle, die kein naturwissenschaftliches Fach studieren, ist die Schule die einzige Institution, in der sie ein solches Verständnis und damit ein wesentliches Element unserer Kultur erwerben können. Das Bildungssystem muß die Voraussetzung schaffen, damit die heranwachsende Generation mit den Segnungen von Naturwissenschaft und Technik – aber auch mit den damit verbundenen Problemen – umzugehen weiß.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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