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Abschied vom 17-keV-Neutrino



Zwei Jahre lang war es Thema zahlreicher Fachdiskussionen der Elementarteilchenphysiker gewesen: ein Neutrino, das entgegen theoretischen Voraussagen eine Masse von 17 Kiloelektronenvolt (keV) haben sollte. Mehrere Forschergruppen hatten Hinweise auf ein solches mysteriöses Teilchen gefunden, während andere Experimente keinerlei Anzeichen für seine Existenz erbrachten. Eine genauere Analyse und Untersuchung der Versuchsanordnungen zeigte nun, daß Streueffekte in der Apparatur Ursache des Phänomens waren.

Die theoretischen Physiker haben diesen Befund mit Erleichterung aufgenommen. Das sogenannte 17-keV-Neutrino hätte nämlich im Widerspruch zu dem Standardmodell der Teilchenphysik gestanden, das den Neutrinos keine oder nur eine sehr kleine Masse zuordnet, und auch ernste Konsequenzen für kosmologische Modelle gehabt ( Spektrum der Wissenschaft, Juli 1991, Seite 24).

Erste Hinweise auf ein massereiches Neutrino hatten sich im Jahre 1985 ergeben, als John J. Simpson von der Universität Guelph in Ontario (Kanada) das Energiespektrum von Elektronen maß, die beim Beta-Zerfall von Tritium, einem Isotop des Wasserstoffs, emittiert wurden. Bei einem solchen Zerfall wandelt sich ein Neutron im Atomkern um in ein Proton, das im Kern verbleibt, sowie in ein Elektron und ein Neutrino, die beide mit einer gewissen Energie weggeschleudert werden. Da Neutrinos nur sehr schwach mit Materie wechselwirken, lassen sie sich nicht direkt beobachten; auf ihre Existenz kann aber aus dem gemessenen Energiespektrum der Elektronen geschlossen werden. Simpson beobachtete nun bei niedrigen Elektronenenergien eine Abweichung des Spektrums von der theoretischen Form, die sich erklären ließ, wenn man annahm, daß anstelle des üblicherweise auftretenden nahezu masselosen Neutrinos mitunter ein solches mit einer Masse von 17 keV ausgesandt würde.

In einem späteren, verbesserten Experiment wiesen Simpson und sein Mitarbeiter Andrew Hime diese Anomalie nicht nur beim Tritium nach, sondern auch beim Beta-Zerfall von Schwefel-35. Eine nochmals verbesserte Versuchsanordnung, die Hime an der Universität Oxford (England) gemeinsam mit Nick A. Jelley aufbaute, erbrachte das gleiche Ergebnis.

Anderen Experimentatoren gelang es indessen nicht, eine Anomalie am Beta-Spektrum festzustellen – weder bei Schwefel-35 noch bei anderen Isotopen. Wäre der Effekt real gewesen, hätte er sich eigentlich unabhängig vom untersuchten Isotop bei jedem Beta-Spektrum zeigen müssen. Noch merkwürdiger war, daß offensichtlich die Art des verwendeten Detektors das Resultat beeinflußte: Nur mit Halbleiterzählern fanden sich Hinweise auf eine Anomalie, aber auch nicht immer; beim Einsatz von Magnetspektrometern hingegen war der Befund stets negativ.

Der Verdacht, daß die unterschiedlichen Resultate in der Meßtechnik begründet waren, lag daher nahe. Neuen Auftrieb bekam die Hypothese von der Existenz eines 17-keV-Neutrinos jedoch Anfang 1991, als Wissenschaftlergruppen aus Berkeley (Kalifornien) und Zagreb (Kroatien) ebenfalls über entsprechende Anomalien im Beta-Spektrum berichteten. Andererseits meldeten immer mehr Experimentatoren negative Resultate – die Befunde blieben widersprüchlich.

Hime – mittlerweile am Los-Alamos-Nationallaboratorium (NeuMexiko) – untersuchte daraufhin seine früheren Messungen nochmals auf mögliche Fehlerquellen. Mit einer Monte-Carlo-Analyse fand er schließlich heraus, daß die von der Probe emittierten Elektronen an einer Abschirmung aus Aluminium weitaus stärker gestreut worden waren als zuvor angenommen ("Physics Letters B", Band 299, Seiten 165 bis 173, 1993). Eine erneute Auswertung seiner Oxforder Experimente ergab keine ungewöhnliche Abweichung vom theoretisch erwarteten Beta-Spektrum mehr.

Da der Streueffekt sehr stark von der Geometrie der Versuchsanordnung abhängig ist, sollte er sich bei unterschiedlichen Versuchsaufbauten verschieden stark auswirken. Um so erstaunlicher ist, daß drei andere Experimente Resultate haben konnten, die mit der Annahme eines Neutrinos mit der Masse von 17 keV konsistent waren. Möglicherweise spielten dabei sowohl unglückliche Zufälle in den Versuchsbedingungen als auch ein gewisses Wunschdenken der Experimentatoren eine Rolle. (U. R.)


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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