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Abstrahieren - Triebkraft der Menschwerdung?


Die Contenance zu wahren ist oft hilfreich im sozialen Miteinander. Dennoch können Gefühle manchmal übermächtig werden, so daß es sehr schwer oder unmöglich ist, sich zur Selbstbeherrschung zu zwingen und den Verstand den Empfindungen überzuordnen.

Obwohl die Beherrschung von Instinkten und Emotionen den Menschen vor den Tieren auszeichnet, hat sie sich nicht erst bei der Menschwerdung entwickelt, sondern während der Evolution der höheren Tiere bereits nach und nach angebahnt. Ein gewisses Bewußtsein vom eigenen Körper und Verhalten etwa oder auch die Fähigkeit zum Taxieren von sozialen Situationen traten relativ früh auf. Den Menschenaffen schließlich spricht man schon ein Bewußtsein von sich selbst zu. Auch können sie offenbar Artgenossen absichtlich manipulieren, sich miteinander gegen Stärkere verbünden oder andere täuschen.

Eine überraschende Grenze ihrer intellektuellen Kapazität fand jetzt jedoch die Psychologin Sarah Boysen von der Staatsuniversität von Ohio in Columbus. Sie erforscht seit gut zwei Jahrzehnten den Verstand von Schimpansen und hat den aufgeweckten Tieren unter anderem die Anfänge des Zählens beigebracht: Ihre Probanden können kleine Mengen unterscheiden sowie arabische Ziffern lesen und auch insoweit verstehen, als sie sich darunter zum Beispiel die entsprechende Zahl Bonbons vorzustellen vermögen und wissen, was mehr und was weniger ist.

Aber dann stellte die Wissenschaftlerin den Tieren die Aufgabe, unter zwei ungleich bestückten Schalen mit Süßigkeiten eine für einen Artgenossen auszusuchen; ihnen selbst blieb die andere. Schimpansen pflegen sich begierig auf Leckerbissen zu stürzen, um soviel wie möglich davon einzuheimsen – Teilen ist nicht ihre Stärke. Auch wurde im Freiland beobachtet, daß sie Kumpane absichtlich ablenken, wenn sie glauben, allein zu wissen, wo sich eine besondere Leckerei befindet.

Es war also zu erwarten, daß die Affen auf die größere Menge Bonbons erpicht wären. Um sie zu bekommen, mußten sie jedoch auf das Gefäß mit dem spärlicheren Inhalt weisen. Trotz langen Trainings meisterten sie diese Probe rationaler Einsicht nicht: Immer deuteten sie auf den volleren Teller und gerieten regelmäßig in Wut, wenn daraufhin der Partner die größere Portion bekam.

Sarah Boysen versuchte es deshalb mit Zahlen aus Plastik und gab den Tieren die entsprechende Menge Bonbons erst nach ihrer Entscheidung. Nun hatten die Schimpansen den Trick sehr schnell heraus: Sie wiesen auf die kleinere Zahl und kassierten hochzufrieden die größere Portion.

Nach diesem Erfolg wurden ihnen die Süßigkeiten schließlich noch einmal direkt vorgesetzt, aber wieder kam ihnen ihre Gier in die Quere. Offenbar war es ihnen einfach nicht möglich, für einen Moment von dem greifbar nahen volleren Teller abzusehen und zwischen Wunsch und Handlung ihren Verstand zu schalten. Es half ihnen nichts, daß sie die Spielregeln offenbar sehr wohl verstanden hatten.

Die Psychologin schließt daraus, daß das Benutzen von Symbolen in der menschlichen Evolution vielleicht ein Weg gewesen sei, die Instinkte und Gefühle zu beherrschen ("Science", Band 262, 3. Dezember 1993, Seite 1517): Der indirekte Umgang mit Inhalten könne erlaubt haben, kulturelle Regeln aufzustellen, zum Beispiel über das Teilen von Nahrung innerhalb der Gruppe. Indem auf diese Weise biologisch tief verankerte Antriebe vom Handeln abgekoppelt wurden, eröffnete sich die Möglichkeit, komplexere Lebensweisen zu erproben. Die unmittelbare Befriedigung grundlegender Bedürfnisse ließ sich nun zurückstellen, wenn ein Problem abstrakt – sei es mathematisch oder sprachlich – faßbar war. Damit konnten vom Verstand gesteuerte Verhaltensweisen die Oberhand gewinnen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 17
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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