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Ärzte im Datennetz

Das deutsche Gesundheitswesen steht unter Druck: Bei sinkenden Einnahmen verlangen Patienten, die immer älter werden, nach besseren, aber auch teureren Behandlungsmethoden. Die Telemedizin soll Effizienz und Effektivität steigern.


Rund 13 Millionen Patienten werden in Deutschland jährlich stationär behandelt. Jeder dieser Krankenhausaufenthalte löst eine Flut von Befunden, Operationsberichten und Arztbriefen aus. In der Regel liegt keine nahtlose Krankengeschichte vor, sondern ein Sammelsurium an Untersuchungsergebnissen. Doch wer wälzt schon gerne Papierberge? Häufig geht es schneller, die gleiche Untersuchung – beispielsweise eine Röntgenaufnahme – nochmals durchzuführen. Dies belastet jedoch den Patienten und verursacht unnötige Kosten.

Zusätzlich werden pro Jahr insgesamt 1,5 Milliarden Abrechnungsbelege produziert, davon 900 Millionen Rezepte. Telematik (Telekommunikation + Informatik) und Telemedizin (Telematik + Medizin) sollen dazu beitragen, diese Informations- und Datenflut zu bewältigen und gleichzeitig Effizienz und Effektivität der medizinischen Versorgung zu erhöhen. Der Vernetzung medizinischer Institutionen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Bundesweit bereitet sich die Ärzteschaft in zahlreichen Vernetzungsprojekten auf die Zukunft vor.

Ein Beispiel aus der telemedizinischen Praxis ist das Telescreening für die diabetische Retinopathie. In westlichen Industrieländern ist diese Krankheit die häufigste Ursache für Erblindung bei Patienten im arbeitsfähigen Alter. Über 1000 Erblindungen gehen jedes Jahr in Deutschland darauf zurück. Obwohl bei einer rechtzeitigen Diagnose eine Erblindung verhindert werden kann, meiden vier von fünf Diabetespatienten die empfohlene jährliche Untersuchung beim Augenarzt. Ein großer Teil von ihnen läßt sich allerdings regelmäßig in Diabeteszentren oder Fachpraxen untersuchen.

Hier setzt das Telescreening an: Die Diabetologen nehmen mit kommerziell verfügbaren Kameras digitale Bilder der Netzhaut ihrer Patienten auf und speichern diese in einem Dokumentationssystem. Anschließend werden die gesammelten Daten in das System übertragen, in das der Arzt zusätzliche Daten von Patienten – et-wa Diabetesdauer und Sehkraft – eingeben kann. Die Formulare werden in ein HTML-Dokument konvertiert, welches dann mit einer verschlüsselten E-Mail über das Internet an Augenärzte oder Augenkliniken geschickt wird. Dort öffnen die Experten das Dokument und begutachten die Netzhautbilder. Anschließend senden sie den Befund sowie Empfehlungen für weitere Maßnahmen an den Diabetologen zurück.

Auf diese Weise lassen sich zunehmend mehr Risikopatienten in Früherkennungsmaßnahmen einbeziehen. Im Rahmen eines EU-Projekts wurde eine Studie zur Beurteilung der Qualität und Einsatzfähigkeit des Telescreenings durchgeführt. Daran beteiligt waren fünf medizinische Zentren, davon je eines in München, Turin (Italien) und Århus (Dänemark) sowie zwei in London. Die Koordination übernahm das medis-Institut des GSF-Forschungszentrums in Neuherberg bei München. Das Resultat der Studie war ermutigend: Telescreening sei für den Routineeinsatz geeignet. Es könne die Qualität der Versorgung von Diabetespatienten verbessern und damit die Zahl der durch die diabetische Retinopathie bedingten Erblindungsfälle reduzieren. Die Telemedizin könne zudem Kosten in Millionenhöhe einsparen (mit einer Erblindung sind Folgekosten in Höhe von einer Million Mark pro Patient verbunden).

Derzeit sind in Kooperation mit dem Deutschen Gesundheitsnetz mehrere Pilotinstallationen in Planung. Im Mittelpunkt steht dabei die Untersuchung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine breitflächige Anwendung des Telescreenings.

Auch in den USA setzen Ärzte auf die Telemedizin. In den Vereinigten Staaten gibt es rund 7000 regionale und kommunale Krankenhäuser. Viele von ihnen besitzen weder Einrichtungen für größere Eingriffe noch spezialisierte Chirurgen und müssen ihre Patienten deshalb an Großkliniken überweisen. Das Middletown-Krankenhaus in Ohio geht einen anderen Weg: Es holt sich die Experten via Datenleitung ins Haus. Seit Ende 1997 besteht zwischen dem Krankenhaus und dem 50 Kilometer entfernten Kettering Medical Center in Dayton/Ohio eine Computerverbindung, auf der bewegte Herzbilder (Angiogramme) übertragen werden. Dank der Vernetzung können die Kardiologen in Middletown – dort gibt es keine Abteilung für chirurgische Kardiologie – die Kollegen am Kettering Medical Center bitten, während der Herzkatheterisierung und Angiographie einen Blick auf das Herz des Patienten zu werfen.

Die Übertragung des Angiogramms dauert dabei nur wenige Minuten. Zunächst wird es mit 15 Bildern pro Sekunde auf der Festplatte des Angiographie-Gerätes gespeichert. Ein drei Sekunden langes Angiogramm umfaßt 45 Megabyte. Der digitale Bericht wird dann an einen Hochgeschwindigkeits-PC übertragen, der ihn wiederum über ein klinikweites ATM-Netz (ATM = Asynchronous Transfer Mode, siehe Beitrag "Vorlesungen auf der Datenautobahn") weiterschickt. Über dieses Netz werden die Daten auf Basis des medizinischen Standards DICOM (DICOM = Digital Imaging and Communications in Medicine) transportiert. Je nach Größe erreicht der Bericht nach drei bis fünf Minuten das Kettering Medical Center, wo er auf einen Server geladen wird. Dieser Server ist durch ein ATM-Netz, das 100 Megabyte pro Sekunde überträgt, mit mehreren PCs verbunden, die an wichtigen Punkten im Krankenhaus und dem Verwaltungsgebäude stehen.

Das Angiogramm kann nun auf einen beliebigen PC geladen und von den Herzspezialisten begutachtet werden. Der große Vorteil für den Patienten in Middletown liegt darin, daß eine zweite fundierte Meinung bereits während des Eingriffs berücksichtigt werden kann. Im Notfall wird der Patient mit Blaulicht ins Kettering Medical Center gefahren, wo die Chirurgen durch das vorliegende Angiogramm bereits umfassend über seinen Zustand informiert sind, und im OP schon alles vorbereiten konnten. Damit lassen sich wertvolle, manchmal lebensrettende, Minuten sparen. Um die Methoden von Diagnostik, minimal-invasiver Therapie und den Einsatz der Telemedizin voranzutreiben, gründete die Technische Universität München das "Institut für minimal-invasive therapeutische Interventionen" (MITI). Am MITI arbeiten die Chirurgische Klinik und Poliklinik, die II. Medizinische Klinik und Poliklinik, das Institut für Röntgendiagnostik (jeweils TU München), das Institut für Medizinische Physik der Universität Erlangen sowie mehrere Firmen zusammen.

Ziel von MITI ist es, innerhalb der nächsten zwei Jahre einen interdisziplinären gastroenterologisch-chirurgischen Arbeitsplatz zu entwickeln. Die Fachbereiche Gastroenterologie, Visceralchirurgie und Röntgendiagnostik, die an verschiedenen Klinikorten angesiedelt sind, werden dabei nicht räumlich, sondern virtuell über ein multifunktionelles Hochleistungsnetz zusammengeführt.

Im Rahmen des Projektes entsteht derzeit am Münchener Klinikum rechts der Isar ein High-Tech-Operationssaal, der durch den Einsatz innovativer Techniken zukunftsweisende Maßstäbe setzen soll. Der High-Tech-OP wird mit modernen Workstations und Displays – insbesondere für kombinierte laparoskopisch-endoskopische Eingriffe – sowie Endgeräten für die Telekonsultation und Telepräsenz ausgestattet.

In zwei Jahren wird sich im Klinikum voraussichtlich folgendes Szenarium abspielen: Die beteiligten Institute sind über ein Hochleistungsnetz miteinander verbunden. Zunächst werden in der Röntgendiagnostik aus dem Abdomen eines Patienten per Computertomographie (CT) dreidimensionale Bilddatensätze gewonnen, die anschließend via Datenleitung an die Gastroenterologie und das Institut für Medizinische Physik geschickt werden. Die dortigen Spezialisten ergänzen diese Bilddatensätze durch ihre eigenen Untersuchungen. Am In-stitut für Medizinische Physik generieren die Mitarbeiter aus den dreidimensionalen CT-Datensätzen virtuelle Bilder. Daraus läßt sich beispielswei-se die Sicht auf eine Leberoberfläche simulieren. Die Simulation sollte im Idealfall mit der realen Sicht im Laparoskop exakt übereinstimmen. Das Gesamtbündel an Informationen wird dann via Netz dem Chirurgen zur Verfügung gestellt. Dieser hat nun die Möglichkeit, vor dem eigentlichen Eingriff die Operation zu planen. Auf einem Bildschirm erscheinen die virtuellen Aufnahmen beispielsweise des Bauchraums und der Leber. In dieser virtuellen Bildwelt kann der Chirurg den optimalen Zugangsweg ausarbeiten, indem er die Instrumente einblendet und mit ihnen agiert. Diese virtuelle Laparoskopieansicht hat einen weiteren Vorteil: Bei einem minimal-invasiven Eingriff sieht der Chirurg lediglich einen kleinen Ausschnitt aus dem Bauchraum. Die Simulation liefert ihm dagegen ein weites Übersichtsbild, das ihm als Orientierungshilfe dient.

Wenn der Chirurg den minimal-invasiven Eingriff dann tatsächlich vornimmt und während der Operation dennoch eine unerwartete Situation vorfindet, kann er per Telekonsultation seine Fachkollegen kontaktieren. Über eine sogenannte Telestrationseinheit, bestehend aus einer OP-Leuchte mit integrierter Kamera und Laserpointer, erhält der beratende Arzt aus der Ferne in Echtzeit den genauen Einblick in das Operationsfeld. Per Laserpointer kann er auf bestimmte Stellen hindeuten. Obwohl minimal-invasive Therapie und telemedizinische Lösungen derzeit oftmals teurer sind als herkömmliche Methoden, lassen sich im Gesundheitswesen der Zukunft vermutlich erheblich Kosten sparen. Denn aufgrund der geringeren Invasivität der Eingriffe und des Einsatzes der Telemedizin dürfte die Anzahl der kostenintensiven Krankenhaustage beträchtlich zurückgehen. Zusätzlich soll die Vernetzung verschiedener medizinischer Disziplinen dazu beitragen, Qualität, Effizienz und Effektivität der medizinischen Versorgung zu steigern. Die Ergebnisse der laufenden und künftigen Projekte werden zeigen, ob diese Erwartungen erfüllt werden.

Literaturhinweise

Telematik-Anwendungen im Gesundheitswesen. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 105. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1998.

Telescreening für die diabetische Retinopathie. Von G. Mann et al. in: Methoden der Medizinischen Informatik, Biometrie und Epidemiologie in der modernen Informationsgesellschaft, Septemberheft, Seiten 234 bis 238. MMV Medien & Medizin Verlag, München 1998.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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