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Ärzte in Heidelberg. Eine Chronik vom "Homo Heidelbergensis" bis zur "Medizin in Bewegung"

Braus, Heidelberg 1995.
248 Seiten, DM 58,-.

Medizin- und Wissenschaftsgeschichte finden heutzutage großes Interesse – insbesondere wenn Institutionen, Ideen und soziale Verhältnisse mit konkreten Menschen und ihren Schicksalen in Verbindung gebracht werden. Heinrich Schipperges, einer der bedeutenden Medizinhistoriker der Gegenwart, promoviert in Medizin wie in Philosophie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und über Jahrzehnte Direktor des Heidelberger Instituts für Geschichte der Medizin, entspricht diesem Interesse auf gewohnt kompetente und fesselnde Weise.

Der Untertitel deutet den zeitlichen Rahmen an: Von der Frühgeschichte der Medizin in der Neckarstadt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts spannt sich der Bogen der Darstellung. Die Orientierung an einer Stadt – und an einer derart renommierten und attraktiven wie Heidelberg – erweist sich als außerordentlich anregend und sinnvoll, denn allgemeine Strömungen, zentrale Positionen und Zäsuren der Medizingeschichte bleiben überschaubar und werden in einen zusammenhängenden Kontext eingefügt.

In chronologischer Folge behandelt Schipperges ein reichhaltiges Themenspektrum: wenige Bemerkungen zur möglichen Parodontose und Deformierung des Unterkiefers des Homo heidelbergensis sowie zu Spuren ärztlicher Tätigkeit in der Römerzeit; dann in den Passagen über das Mittelalter vor allem die Prinzipien damaliger Heilkultur, den Alltag der Ärzte, das Wirken jüdischer Ärzte sowie die Rolle heilkundiger Frauen, die Hospitalentwicklung und die Bedeutung der Epidemien. In der Neuzeit geht es besonders um die Entwicklung der medizinischen Disziplinen, die Lage der Medizin im Zeitalter der Aufklärung sowie die tiefgreifenden Veränderungen im 19. Jahrhundert: Einrichtung klinischer Institute, die naturwissenschaftliche Grundlegung der Medizin, neue Initiativen zur Pflege und Behandlung von Geisteskranken sowie die Auswirkungen der gesetzlichen Sozialversicherung.

Für das 20. Jahrhundert bespricht Schipperges als wesentliche Themen Standesfragen, die Konflikte der Ärzte mit den Krankenkassen, das Verhalten der Heidelberger Ärzte unter dem nationalsozialistischen Regime und den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg.

Zahlreiche einzelne Ärzte werden genannt und in ihrem Leben und Werk gewürdigt. Eine besonders faszinierende Arztfigur im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ist Franz Anton Mai (1742 bis 1814), der sich mit starken Worten für die Volksaufklärung, die Qualität der medizinischen Ausbildung und die Konsolidierung des ärztlichen Standes engagierte: "Woher kömmt es, daß... man Aerzte im gemeinen Wesen herumwandeln sieht, welche arm an Wissenschaft und Rechtschaffenheit, statt Menschen-Retter zu seyn, Würg-Engel der Innwohner, sittenlose Diener der Schwelgerei und Wollust sind?" Als er 1798 das Amt des Rektors der Heidelberger Universität antrat, war diese, so Schipperges, "ein trostloser Verein mit ... knapp 100 Studenten, darunter sechs oder sieben Medizinern"; Mai verfocht die Ansicht, daß allein die Tätigkeit am Krankenbett und die Erfahrung einen wahren Arzt heranbilden könnten, "denn ein bloß mittelmäßiger Arzt ist immer eine elende Bescherung, eine Landplage, wonicht gar ein privilegierter Würgeengel für die Volksgesundheit."

Zahlreiche Porträts erwähnter Mediziner und Naturforscher sowie Abbildungen von Apotheken, Hospitälern und Kliniken, von Szenen der Lehre, der Diagnostik und Therapie, von Heidelberg und der umgebenden Neckarlandschaft beleben ungemein die Lektüre. Hilfreich ist das Literaturverzeichnis der Quellen und historischen Studien.

Die Biographie von Ärzten und das Bild der Medizin bleiben bei Schipperges nie nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern erhellen die Gegenwart, sind Aufforderungen an die Zukunft. Das vorliegende Buch schildert in diesem Sinne grundsätzliche Bedingungen des Arztseins in Lehre und Forschung und der Beziehung von Arzt und Patienten.

Die "Einführung des Subjekts in die Medizin", wie es der Heidelberger Mediziner Viktor von Weizsäcker (1886 bis 1957) formulierte, bleibt weiterhin ein zu erfüllendes Programm. Bei diesem Konzept geht es "letztlich um eine neue Rangordnung, in der neben der Krankheit und dem Arzt nun auch der Patient eine zentrale Rolle einnimmt. Erst im persönlichen Umgang mit dem Kranken gestaltet sich die für die Heilung so entscheidende Arzt-Patient-Beziehung, eine Art ,Weggenossenschaft ".

Was den Autor bei seinen Forschungen für diesen Band und bei der Niederschrift fesselte, kann der Leser unmittelbar nachvollziehen: "Was uns im Heidelberger Raum vor allem zu faszinieren vermochte, ist das wechselseitige Verhältnis von Theorie und Praxis, von ärztlicher Tätigkeit und der Entwicklung der Medizinischen Fakultät. In beiden Bereichen spiegeln sich die großen Perio-den der jüngeren Medizingeschichte: das scholastische, das empirische und das naturwissenschaftliche Stadium. Pendelnd zwischen diesen Polen bietet sich uns ein überraschend reiches Panorama."



Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 135
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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