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Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870-1920

Klett-Cotta, Stuttgart 1994.
440 Seiten, DM 128,-.

In der zweiten Hälfte des 19. und in den beiden ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hatte die in Deutschland staatlich geförderte Wissenschaft eine überragende internationale Stellung inne; dies ist das unbestrittene Ergebnis wissenschaftshistorischer und -soziologischer Forschung. Die Gründe dafür sind vielfältig und nur in Grenzen auf den Begriff zu bringen. Waren es die vom Staat bereitgestellten Ressourcen und die den Forschern eingeräumte Verfügungsgewalt darüber, wie sie zum Beispiel die preußische Institutsverfassung dokumentiert? Waren es die Organisationsformen der Kommunikation, zum Beispiel Zeitschriften und Kongresse, war es die Wissenschaftssprache? War es die Organisation der wissenschaftlichen Arbeit selbst? Oder waren es die Menschen, ihr kultureller und sozialstruktureller Hintergrund, der sie befähigte, Originalität, Innovation und Außenseitertum mit der erforderlichen Disziplinierung schöpferischer Potenzen im Lebensentwurf zu verbinden?

Zweifellos erfordert gerade die Erforschung der letztgenannten Perspektive hohe methodische Kompetenz. Gesellschaftliche Prozesse auf ihre individuellen Bedingungen hin zu untersuchen gehört zwar zu den immer wieder erhobenen Ansprüchen der Soziologie an sich selbst, jedoch sind überzeugende Lösungen große Ausnahmen.

Martin Schmeiser ist einer der wenigen, denen es gelungen ist, an einem historisch bedeutungsvollen Prozeß die Ergebnisse sozialstruktureller und biographischer Analysen schlüssig miteinander zu verknüpfen. Sein Buch, eine überarbeitete Fassung seiner Tübinger Dissertation von 1994, könnte über seinen eigentlichen Gegenstand hinaus wegweisend und standardsetzend für die Soziologie werden.

Leitthema seiner Untersuchung ist eine Bemerkung des Soziologen Max Weber (1864 bis 1920) in "Wissenschaft als Beruf": "Innerlich ebenso wie äußerlich ist die alte Universitätsverfassung fiktiv geworden. Geblieben aber und wesentlich gesteigert ist ein der Universitätslaufbahn eigenes Moment: ob es einem... Privatdozenten, vollends einem Assistenten, jemals gelingt, in die Stelle eines vollen Ordinarius oder gar eines Institutsvorstandes einzurücken, ist eine Angelegenheit, die einfach Hasard ist." Diese Bemerkung versteht Schmeiser zugleich als symptomatisch für eine Wendezeit: "als das deutsche Universitätssystem seine Vorrangstellung als Weltzentrum der Wissenschaft verlor" (Seite 17).

Grundlage der Analyse sind 50 systematisch ausgewählte Biographien von Professoren der Geburtsjahrgänge 1840 bis 1900. Die Auswahl beschränkt sich auf die Jurisprudenz und die Medizin. Schmeiser teilt sie in vier Herkunftsmilieus ein, die den Zutritt zur Position "volles Ordinariat" oder "Institutsvorstand" erleichtern beziehungsweise erschweren konnten: "bildungsfernes", "einkommensschwaches bildungsnahes", "ökonomisch privilegiertes akademisches" und "besitzbürgerliches Milieu". Das ist vor allem deshalb wesentlich, weil man die Position des Privatdozenten und die des Assistenten in einem Lebensalter erreicht, in dem in den anderen akademischen Berufen der Berufsweg bereits in gesicherte Bahnen einmündet, während für den Hochschullehrer erst die kritische Phase des "Hasardspiels" beginnt.

Erleichtert wurde die Analyse durch zwei Umstände. Zum einen lädt der Beruf des Professors die Erfolgreichen dazu ein, fordert sie durch entsprechende Publikationsangebote geradezu auf, ihren eigenen Berufsweg bilanzierend zu reflektieren. Die geschriebene Selbstdarstellung gehört zum Ritual verdeckter (Be)Werbung in der Zunft; Nekrologe dienen dazu, die Entwicklung des eigenen Faches zu dokumentieren. Die biographische Materiallage ist also außerordentlich günstig. Zum anderen hat in der untersuchten Epoche der Ausbreitung und Professionalisierung der akademischen Berufe – den des Hochschullehrers eingeschlossen – die statistische Dokumentation dieses Prozesses eine Fülle von Referenzdaten erzeugt, an denen Schmeiser seine eigenen Untersuchungsergebnisse messen konnte.

Biographische Dokumente und Referenzdaten machen die verdichtende Darstellung der 50 Lebensgeschichten nicht entbehrlich, im Gegenteil. In deren Auswahl und Präsentation erweist sich Schmeiser als ein Meister in der Interpretation und in der verstehenden soziologischen Methode. Die Lektüre bereitet darum ästhetischen und intellektuellen Genuß. Es ist Schmeiser gelungen, die Entwicklung deutscher Wissenschaft zur Weltgeltung und die damit untrennbar verknüpfte Professionalisierung der Hochschullehrer in der Selbstwahrnehmung der Betroffenen und Beteiligten widerzuspiegeln, in der individuellen Brechung und Fokussierung dieser überindividuellen Prozesse.

Empirische Untersuchungen können in ihren Ergebnissen nicht abgehoben werden von den Methoden ihrer Gewinnung. In der Markt- und Meinungsforschung besorgen dies standardisierte Erhebungs- und Auswertungsmethoden, die oft eher verschleiern als offenlegen. Die qualitative Sozialforschung ist also zu eingehenden Auskünften über die einzelnen methodischen Schritte und ihre Begründung für das Untersuchungsziel verpflichtet, will sie nicht der Beliebigkeit in der Verwendung ihrer Ergebnisse anheimfallen. Dieser methodischen Forderung kommt der Verfasser in geradezu vorbildlicher Weise nach; insofern ist seiner Untersuchung eine breite Rezeption in der Soziologie zu wünschen. Zwei methodische Anhänge von insgesamt 100 Seiten – einschließlich Literatur- und Quellenangaben – geben erschöpfend Auskunft.

Die Karrierewege der Professoren folgten bis in die Feinstruktur der Rangordnung der Universitäten, an deren Spitze – nach der materiellen Ausstattung – Berlin, München und Wien standen. Schmeiser zeigt, wie stark diese Rangordnung bis in die individuellen Entscheidungen der von ihm Beschriebenen durchschlug. Bei dem Weg in die Spitzenpositionen spielte das Herkunftsmilieu durchaus eine Rolle. Die Selbstergänzung der Fakultäten diente auch ihrer soziokulturellen Homogenisierung (Seiten 215/216 und 256).

Das Hasardspiel mit dem Glück der Berufung fordert dem akademischen Nachwuchs nicht nur eine hohe Frustrationstoleranz ab, sondern auch den jahrelangen Verzicht auf eine normale bürgerliche Existenz; der Familiengründung geht eine Zeit der Askese voraus. Schmeiser läßt die emotionalen Spannungen erkennen, unter denen seine – erfolgreichen – Hasardeure die Zeit vor der Berufung erlebten und sinnhaft deuteten.

Im Lichte der Erfahrungen unseres Jahrhunderts sehen wir, daß ein solches emotionales Klima vielleicht herausragende wissenschaftliche Leistungen begünstigte, nicht aber die Entwicklung einer akademischen Lehrbefähigung und einer Persönlichkeit, die Generationen von jungen Menschen auf Schlüsselberufe in der Gesellschaft vorzubereiten geeignet ist. Wir erinnern uns mit Scham: Die deutschen Universitäten zerbrachen bereits unter dem ersten Ansturm des Nationalsozialismus – durch den "Arierparagraphen" verloren medizinische sowie rechts- und staatswissenschaftliche Fakultäten bis zu 50 Prozent ihrer Mitglieder – nicht zuletzt durch den Mangel an Persönlichkeiten. Im Gegensatz zu vergleichbaren Untersuchungen etwa von Helmuth Plessner (1956) oder Ben David (1964) geben Schmeisers Analysen einen detaillierten Einblick in die "menschliche, allzu menschliche Nähe", die milieu-, ja personengebundenen Grundlagen der deutschen Universitäten, aber auch in deren Verletzlichkeit in einer Zeit, als außer der fachlichen Leistung auch Bindung an humanitäre Werte und die Übernahme politischer Verantwortung geboten waren.

In diesem Zusammenhang sind die ökonomischen Nischen von Interesse, in denen der sich dem Hasard ausliefernde akademische Nachwuchs überleben konnte. Hier liegt eine Antwort auf die Frage, die Schmeiser besonders beschäftigt: "Bestimmte der im frühen 19. Jahrhundert geschaffene Auslesemodus das Schicksal der deutschen Universität zu Beginn des 20. Jahrhunderts?" (Seite 18) Im Zuge gesamtgesellschaftlicher Rationalisierungen verschwanden nämlich zahlreiche dieser Nischen, wie zum Beispiel vom Arbeitsdruck entlastete Eingangspositionen in akademische Berufe und Posten mit mäzenatischer Komponente: Privatsekretäre und Privatlehrer in begüterten Häusern oder auch Privatassistenten bei Professoren. Das machte die Situation angehender Hochschullehrer zunehmend prekärer und brachte sie in die Abhängigkeit von funktional bestimmten Dienstleistungsaufgaben an den Universitäten. Das zeigt sich in dem Schub der Verbeamtung, der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, und bis in die Gegenwart hinein im öffentlichen Dienstrecht und in den ausziselierten Regelungen der akademischen Selbstverwaltung.

Überkommene Freiräume fallen einer steigenden Funktionstüchtigkeit von Organisationen und Institutionen zum Opfer. Für dieses allgemeine Phänomen hat Max Weber den Ausdruck "fortschreitende Zweckrationalität" geprägt. Sie verzehrte die historisch vorgefundenen und eingebrachten sozialen Ressourcen, mit Händen zu greifen in den "privilegierten Herkunftsmilieus". Die Analyse von Schmeiser macht die Entwicklung der deutschen Universitäten zu "kapitalistischen Großbetrieben" (Max Weber) aus ihren individuellen und – das bildet den Kern des Schmeiserschen Buches – zugleich unverwechselbar sozialstrukturell geprägten Ressourcen verständlich, doch leiten sich daraus keine Handlungsanweisungen für die Zukunft ab.

Schmeiser setzt Privatdozentur und Assistentur "als Pflanzgarten künftiger Professoren" äquivalent. Das ist verständlich, solange es nur um Medizin und Jurisprudenz geht. In unserem Jahrhundert wurde allerdings in allen Fächern ausschließlich die Assistentur strukturbestimmend für die personelle Ergänzung des Lehrkörpers der Universitäten, doch damit wohl kaum Bedingung für den "Verlust der Weltgeltung deutscher Wissenschaft".

Heute macht ganz im Sinne der zitierten Bemerkung Max Webers das Diktum die Runde: "Die deutsche Universität ist nicht mehr im Kern gesund, sondern im Kern vermodert." In bezug darauf läßt sich aus dem Buch eines sicherlich lernen (in Abwandlung eines Wortes des Soziologen Eugen Friedrich Rosenstock-Hyssi): "Das Geheimnis der deutschen Universität" liegt in der Förderung und Ermutigung, aber auch in der Auslese während der Post-doc-Phase. Es ist symptomatisch, daß es dafür kein deutsches Wort gibt.

Ausstattung und Aufmachung des Buches sind hervorragend, der abschreckende Preis jedoch seiner Verbreitung äußerst hinderlich. Es stimmt nachdenklich, daß im Zeitalter von Subventionen und Sponsoren eine so wertvolle und sorgfältige Arbeit ihre Öffentlichkeit über den Markt suchen muß.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 131
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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