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Alltagsmobilität und nichtmotorisierter Verkehr


Menschen sind selten deshalb unterwegs, weil sie an dieser Beschäftigung Vergnügen finden; vielmehr müssen sie zur Arbeitsstätte gelangen, haben einzukaufen oder wollen einer Freizeitaktivität außer Haus nachgehen. Welches Verkehrsmittel sie dabei wählen, hängt von der persönlichen Lebenssituation und der Infrastruktur – etwa dem Vorhandensein eines Fahrrades und entsprechender Wege – ab.

Doch die objektiven Bedingungen werden subjektiv wahrgenommen und individuell bewertet, von Verkehrsteilnehmern wie von Verkehrsplanern und politischen Gremien. Dabei wird der motorisierte Verkehr stark überbewertet, während dem nichtmotorisierten für eine funktionierende und umweltverträgliche Verkehrsgestaltung oft wenig Bedeutung beigemessen wird.

Unser Institut führt seit mehreren Jahren einschlägige Studien in Kooperation mit Ländern, Städten und Gemeinden durch. Zur empirischen Erhebung erfassen wir Aktivitätsmuster, und zwar tageweise alle Ortsveränderungen; dieses Verfahren hatte schon der Gründer des Instituts, der Sozialwissenschaftler Werner Brög, Mitte der siebziger Jahre erstmals bundesweit eingesetzt. Mittlerweile wurden genug Daten gesammelt, um eine ganze Reihe solcher Projekte zusammenzufassen sowie um Städte und bestimmte Regionen zu vergleichen.


Wahl der Verkehrsmittel

In den untersuchten Gebieten legen die Bewohner an einem durchschnittlichen Wochentag etwa ein Viertel aller Wege ausschließlich zu Fuß zurück (Wege zu und von Haltestellen und Parkplätzen sind also nicht berücksichtigt). Der Radverkehr macht zwischen einem Prozent in Wuppertal und 32 Prozent im Landkreis Borken aus; in Ballungsgebieten liegt er bei etwa 10 Prozent. Deutliche Unterschiede gibt es auch beim öffentlichen Personennahverkehr: In Flächenräumen beträgt sein Anteil weniger als 10, in großen Ballungskernen mehr als 20 Prozent. Entsprechend variiert die Nutzung des Automobils, und zwar selbst in Städten vergleichbarer Größe oft erheblich; beispielsweise beträgt der Anteil der Fahrer (weitere Insassen nicht gerechnet) in Freiburg 31 und in Solingen 49 Prozent (Bild 1 links).

Solche Zahlen sind deswegen von Bedeutung, weil herkömmlichen Verkehrsmodellen der sogenannte klassische Modal-Split zugrunde liegt, also die Annahme, der nichtmotorisierte Verkehr sei zu vernachlässigen, motorisierte Fahrzeuge – ob Zweiräder oder Automobile, ob als Fahrer oder Mitfahrer genutzt – seien zum Individualverkehr zusammenzufassen und dem öffentlichen Verkehr gegenüberzustellen (Bild 1 rechts).

Unsere Erhebungen und Analysen belegen, daß dieses Verfahren unvollständig ist. Zudem ist es irreführend, weil trotz unterschiedlicher Autofahrer-Anteile gleiche Modal-Split-Verhältnisse resultieren können; so ergibt sich für die Städte Witten mit 47 und Wuppertal mit 41 Prozent derselbe Individualverkehr-Anteil, nämlich 76 Prozent.

Gliedert man die Verkehrsmittelwahl nach einfachen soziodemographischen Gruppen, zeigt sich, daß in Ballungs- gebieten von den erwerbstätigen Männern überdurchschnittlich viele einen Wagen fahren (Bild 2). Dieser Gruppe gehört aber auch der weitaus größte Teil der Meinungsbildner und Verkehrsplaner an. Die notorische Unterschätzung des nichtmotorisierten Verkehrs entspricht also möglicherweise zum Teil einem Verallgemeinern des eigenen Verhaltens einer Untergruppe der Allgemeinheit. Drastisch gefragt: Wurde Verkehrsplanung immer nur von Männern im besten Alter für Männer im besten Alter gemacht?


Mobilitäts-Kennwerte

Wer das Haus verläßt, erledigt im Mittel zwei Aktivitäten pro Tag. Weil nur etwa drei Viertel der Bürger an einem durchschnittlichen Tag ausgehen, ergeben sich pro Person und Tag 1,6 Aktivitäten. Dafür sind etwa drei Wege mit einer Gesamtdauer von einer Stunde zu unternehmen. Diese Werte haben sich seit Mitte der siebziger Jahre nicht verändert, allerdings ist die mittlere dabei zurückgelegte Strecke pro Person und Tag größer geworden (sie beträgt nunmehr 20 Kilometer). Auf diese eine Stunde aktiver Teilnahme am Verkehrsgeschehen konzentrieren sich alle Diskussionen.

Beträchtliche Wege werden aber im Nahbereich zurückgelegt: Jeder vierte an einem durchschnittlichen Wochentag ist nicht länger als ein, gut jeder zweite nicht länger als drei Kilometer; fünf Sechstel (84 Prozent) enden nach spätestens zehn Kilometern. Diese Verhaltensmuster erweisen sich bei Städtevergleichen als sehr konstant.

Dementsprechend stellen die meisten Autofahrer ihren Wagen schnell wieder ab. Nahezu jede zehnte Fahrt in westdeutschen Ballungsgebieten endet schon nach einem, jede dritte nach drei Kilometern, etwa jede zweite nach spätestens fünf; 73 Prozent aller Autofahrten führen allenfalls zehn Kilometer weit.

Dabei sind die innerhalb von Städten, also bei Fahrten von Tür zu Tür, erreichbaren Geschwindigkeiten sehr gering. Im durchschnittlichen Entfernungsbereich einer Radfahrt von 2,7 Kilometern bewegen sich Fahrrad und Auto im Mittel etwa mit elf Kilometern pro Stunde (der Anteil der innerstädtischen Personenwagenfahrten, die spätestens dann am Ziel sind, beträgt 39 Prozent). Auch das gilt bis auf graduelle Unterschiede für alle Städte; in einigen – etwa Bocholt, Erlangen und Freiburg – ist man mit dem Rad sogar geringfügig schneller unterwegs.


Ersatz von Autofahrten

Der drohende Verkehrsinfarkt der Innenstädte, die Beeinträchtigung von Gesundheit und Umwelt durch Unfälle, Lärm und Abgase sowie hohe Infrastrukturkosten erzwangen mittlerweile ein neues Leitbild des planerischen Handelns: die Verkehrsvermeidung. Die genannten und weitere Zahlen belegen, daß ein Potential dafür vorhanden ist.

Ein privater Personenwagen wird in westdeutschen Ballungsgebieten pro Jahr für durchschnittlich 900 Fahrten genutzt, knapp drei Viertel davon für solche innerhalb der Stadtgrenzen. Die wichtigsten Zwecke sind mit jeweils etwa 25 Prozent Arbeit, Freizeit und Versorgung (Einkauf, Arztbesuch, Erledigungen bei Post oder Behörden und dergleichen). Schon diese grobe Aufschlüsselung legt nahe, daß man für viele Wege das Auto gar nicht brauchte. Bei genau-erer Überprüfung der Gründe ergibt sich, daß etwa 60 Prozent aller Autofahrten in den untersuchten Städten nicht dringend geboten wären und sich mindestens eine Alternative böte.

Um die Umstände zu untersuchen, die einen Wechsel vom Auto etwa zum Fahrrad motivieren könnten, haben wir die äußeren Bedingungen und persönlichen Motive – die sogenannte subjektive Handlungssituation – bei der Wahl der Verkehrsmittel für jeden einzelnen Weg erfaßt: Er mußte entsprechend kurz sein, eine Alternative sollte zur Verfügung stehen, und kein Sachzwang für den Personenwagen durfte bestehen. Dabei wurden nur die Fortbewegungsarten des sogenannten Umweltverbundes, also zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln, in Betracht gezogen, nicht aber andere Nutzungsarten des Autos wie Fahrgemeinschaften und auch nicht der Fahrtverzicht. Demnach ließen sich nicht weniger als 30 Prozent der innerstädtischen Autofahrten auch mit dem Rad, 33 Prozent mit einem öffentlichen Nahverkehrsmittel ohne weitere Systemverbesserung und 19 Prozent zu Fuß zurücklegen.

Von den genannten 900 Fahrten pro Privatwagen und Jahr in Ballungsgebieten wären also 392 umweltfreundlicher zu bewältigen. Würde nur jedes vierte Mal eine der aufgeführten Alternativen gewählt, entfielen immer noch 98 Fahrten beziehungsweise etwa zwei pro Woche. Für eine Hin- und Rückfahrt auf den eigenen Wagen zu verzichten erfordert zwar eine kleine Verhaltensänderung – aber damit ließe sich der Autoverkehr in Ballungsgebieten insgesamt um 15 Prozent verringern.


Alternative Fahrrad

Zwar könnten, wie erwähnt, 30 Prozent aller Autofahrten im urbanen Binnenverkehr mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, da kein Sachzwang den Wagen erfordert und ein Fahrrad vorhanden ist, doch von jeweils 100 Fahrern wären dann nur 24 dazu ohne Einschränkung bereit. Die übrigen haben unterschiedliche Einwände: Die Reisezeit wird von 18 als zu lang empfunden, 12 halten das Radfahren für zu unbequem, 15 wegen Mängeln der Infrastruktur auch für unangenehm bis gefährlich, und 31 empfinden das kommunale Klima dafür als nicht akzeptabel.

Durch Maßnahmen, die das Radfahren schneller, komfortabler, sicherer und allgemein attraktiver machen, ließen sich unserer Analyse nach zusätzlich 12 bis 18 von 100 Autofahrern, die prinzipiell auf das Rad umsteigen könnten, auch dazu bewegen. Verbesserungen der Infrastruktur allein haben dementsprechend bislang nur wenig bewirkt. Beschränkungen für den städtischen Autoverkehr wie Verkehrsberuhigung, Verminderung der Parkplätze oder Verteuerung des Benzins können nur in einem umfassenden Rahmen den erwünschten Effekt haben und zur Akzeptanz des Fahrrads beitragen.

Planer und Entscheidungsträger müssen also künftig nicht nur überkommene Verkehrsmodelle aufgeben, sondern auch den Bürger als subjektives Wesen statt nur als statistische Variable berücksichtigen. Ein fahrradfreundliches Klima in unseren Städten zu schaffen dürfte für eine verstärkte Nutzung dieses Verkehrsmittels die besten Chancen eröffnen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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