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Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung


In der utopischen Erzählung "Neu-Atlantis" des englischen Philosophen und Staatsmannes Francis Bacon (1561 bis 1626) landen kühne Seefahrer an den Ufern der bis dahin völlig unbekannten Insel Bensalem. Dort begegnen sie politischen und sozialen Lebensformen, die den Horizont ihrer bisherigen Erfahrungen weit übersteigen. Anders jedoch als in der "Utopia" seines Landsmannes Thomas Morus (1478 bis 1535) interessierten Bacon die sozialen und politischen Verhältnisse auf seiner Insel nur am Rande; im Mittelpunkt seiner Schilderung steht vielmehr das "Haus Salomon", eine wissenschaftliche Gesellschaft, welche die Erforschung der Naturkräfte mit dem Ziel betreibt, die Grenzen der menschlichen Macht und Schöpferkraft systematisch zu erweitern.

Hatte Bacon in seinem Hauptwerk, dem "Neuen Organon", eine neue Denkweise, eine Innovationen und Entdeckungen fordernde Methode für die Naturwissenschaften zu entwerfen versucht, steht das "Haus Salomon" für sein Bestreben, die Wissenschaft in der Gesellschaft zu institutionalisieren. Sie ist in seiner Vision nicht mehr von bloß akzidentieller Bedeutung, sondern wird im Verein mit der Technik zur tragenden Säule künftigen gesellschaftlichen Fortschritts.

Verständlich, daß Bacon diese Vision angesichts der realen Zustände und Möglichkeiten seiner Zeit nur als Utopie zu formulieren vermochte. Doch die folgenden Jahrhunderte, vor allem das 20., haben seine Vorstellungen auf nachhaltige Weise konkretisiert. Sie haben aber auch die tiefe Ambivalenz zutage treten lassen, mit der die Entwicklung von Wissenschaft und Technik behaftet ist.

Dies ist der thematische Einstieg für Gernot Böhme, Philosophieprofessor an der Technischen Hochschule Darmstadt: Wissenschaft und Technik seien zu einer integralen gesellschaftlichen Instanz geworden, zu einem wesentlichen Teil des öffentlichen Lebens. In dieser Hinsicht sei Bacons Programm mit einer Konsequenz verwirklicht worden, wie er es wohl selbst nicht für möglich gehalten hätte. Gescheitert hingegen sei es mit der Erwartung, wissenschaftlich-technischer Fortschritt bedeute zugleich Humanitätsgewinn. Drei wesentliche Gründe führt Böhme für diese folgenreiche Einschätzung an:

- die Verwissenschaftlichung des Krieges und die damit verbundene Konzentration eines erheblichen Teils wissenschaftlicher Ressourcen auf den militärischen Sektor,

- die allgemeine Dialektik des Fortschritts, die bewirke, daß wissenschaftlich-technische Ergebnisse außer dem angestrebten Nutzen immer auch Schäden hervorriefen, die als Folge- oder Nebenwirkung die ursprünglichen menschlichen Absichten konterkarierten, sowie

- das Scheitern der Idee einer wissenschaftlich organisierten Gesellschaft.

Als aktuellen Beleg für die Vergeblichkeit der Hoffnung, gesellschaftliche Entwicklung gleichsam auf der Basis wissenschaftlicher Rationalität über Expertenwissen konstruieren zu können, führt Böhme den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten an. Hier sei Wissenschaft durch den Glauben an die Planbarkeit und gesetzmäßige Entwicklung der Gesellschaft zum Fetisch verkommen.

Der vorliegende Band vereint hinter einer orientierenden thematischen Einleitung 23 Aufsätze, davon drei Erstveröffentlichungen, die Böhme zwischen 1967 und 1993 zu verschiedenen Anlässen geschrieben hat. Die inhaltliche Gliederung läßt seine Auffassung erkennen, daß eine Theorie der Wissenschaftsentwicklung nur über die Integration von Wissenschaftstheorie, -geschichte und -soziologie gewonnen werden könne, wobei jede dieser Disziplinen wiederum ihren eigenständigen theoretischen Beitrag leisten müsse.

Gewisse inhaltliche Überschneidungen und Wiederholungen waren offenbar nicht zu vermeiden. Der Leser wird dafür vor allem durch den Wiederabdruck von Studien zur Wissenschaftsentwicklung aus den siebziger Jahren entschädigt. Sie ermöglichen einen theoretisch wie historisch gleichermaßen anregenden Einblick in die Geschichte der Wissenschaftsdiskussion in der Bundesrepublik.

Von besonderer Aktualität sind Arbeiten, die im Zusammenhang mit Böhmes Engagement in der Friedensbewegung entstanden. Für ihn war das zwingende Konsequenz seiner Erkenntnis, daß sich Bacons Programm einer Vergesellschaftung der Wissenschaft am konsequentesten im militärischen Bereich vollzog. So ist der Text eines Vortrages, den er 1988 zum Thema "Friedensbewegung in der Wissenschaftlergemeinschaft" an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften hielt, nicht nur von zeitgeschichtlichem Interesse.

In einer Zeit, da mancher Politiker und Wissenschaftler aus den alten Bundesländern nur ungern zugibt, daß er mit Vertretern der offiziellen DDR-Ideologie wissenschaftliche Diskussionen pflegte, ist ein solcher Wiederabdruck ungewöhnlich. Aber gerade das öffnet die Augen dafür, daß das Problem einer militärischen Nutzung der Wissenschaft auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eher verdrängt denn bewältigt wurde. Die Schuld dafür schiebt Böhme nicht einfach Politikern und Militärs zu, sondern macht dafür massive Eigeninteressen der Wissenschaft – das Streben nach Erhaltung ihrer Kapazitäten und nach Sicherung ihrer Ressourcen – verantwortlich.

Wenn Böhme schon mit dem Titel des Buches das Ende des Baconschen Zeitalters konstatiert, meint er damit nicht das Ende wissenschaftlicher Arbeit im Sinne des neuzeitlichen Programms, wohl aber das Ende der mit ihr verknüpften permanenten Fortschrittserwartungen. Larmoyante Zivilisationskritik ist nicht seine Sache, wohl aber eloquente Polemik gegen das Verharren in alten Denkstrukturen. Er fordert eine grundsätzliche Neubestimmung unseres Verhältnisses zur Wissenschaft, wobei zuerst geklärt werden müsse, was Humanität unter den Bedingungen technischer Zivilisation bedeutet, statt sich von deren Gang wie selbstverständlich eine zunehemnde Humanisierung zu versprechen.

Wie eine solche Neubesinnung aussehen könnte, ist in diesen Studien leider nur skizzenhaft entwickelt. Manche unter Parenthese-Strichen angeführte Bemerkung ("mögliches Ende der wissenschaftlichen Entwicklung", "partnerschaftliches Zusammenspiel von Selbsttätigkeit der Natur und menschlicher Nutzung", "Formwandel des Sozialverhaltens durch technische Mittel") würde Stoff für eigenständige, umfangreiche Publikationen bieten. Ein Personenregister und ein allgemeiner Literaturanhang hätten die Nutzerfreundlichkeit des Bandes erhöht. Leser, deren Interesse Problemen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, aber auch der perspektivischen Gestaltung gesellschaftlicher Lebensformen gilt, werden jedoch aus Böhmes Überlegungen vielfältige Anregungen erhalten.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 127
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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