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Anatomische Korrelate der Akupunkturpunkte

Vergeblich hat man an den klassischen Akupunkturpunkten nach dort vermuteten punktförmigen Ansammlungen von Nervenendigungen gesucht. Was aber in der westlichen Kultur als Produkt bezeichnet wird, entspricht im alten Mandarin-Chinesisch einem Loch; unter diesem Aspekt ließ sich das Problem anatomisch aufklären.


Akupunktur, eine Therapieform der altchinesischen Medizin, hat sich inzwischen auch innerhalb der konventionell ausgerichteten Medizin etabliert, insbesondere zur Behandlung von Schmerzen. Mehr als zwei Drittel aller Einrichtungen zur Schmerztherapie in den alten Ländern der Bundesrepublik wendeten sie laut Schmerztherapeuten-Verzeichnis von 1989 an. Bestimmte ausgewählte Punkte der Körperoberfläche, die Organen oder Körperteilen zugeordnet sind, werden dabei mit dünnen Nadeln gestochen und so stimuliert; statt Nadeln können auch elektrische Wechselströme oder Laserlicht den Reiz setzen.

Die Wirkmechanismen der Akupunktur lassen sich im Kontext moderner naturwissenschaftlicher Medizin schon recht gut erklären. Wie neurophysiologische Untersuchungen gezeigt haben, reizt der Akupunkturstich schnell leitende sensible Nervenfasern der Haut (bei tieferem Stich auch die aus dem betroffenen Muskelbereich), deren Impulse auf Rückenmarksebene die langsamer leitenden Fasern aus den inneren Organen gewissermaßen überlaufen – und zwar durch Aktivierung hemmender Zwischennervenzellen (Interneuronen). Über schmerzverarbeitende Zentren im Hirnstamm erfolgt dann eine unbewußte, vegetative Reaktion, über Wahrnehmungsfelder der Großhirnrinde eine bewußte. Die von der Rinde in das Rückenmark absteigenden Bahnen sorgen wiederum für eine Aktivierung hemmender Interneuronen, so daß die langsame Erregungsleitung aus den inneren Organen abermals überrundet wird. In Gehirn und Rückenmark werden dabei schmerzhemmende körpereigene Opiate ausgeschüttet.

All dies unterbricht den Teufelskreis Organerkrankung – Schmerz – zunehmende Erkrankung – sich verstärkender Schmerz und gibt die Möglichkeit zur Regeneration. Dort freilich, wo ein Organ bereits teilweise oder gänzlich irreversibel geschädigt ist, läßt sich auch mit Akupunktur nichts ausrichten.

Nach Ronald Melzack von der Mc-Gill-Universität in Montreal (Kanada) stimmen knapp 80 Prozent der Akupunkturpunkte mit sogenannten Triggerpunkten überein: eng umschriebenen Stellen innerhalb eines Bereichs der Körperoberfläche, dessen sensible Nervenversorgung im Rückenmark auf der gleichen Segmenthöhe liegt wie die vegetative Innervation bestimmter innerer Organe; bei Erkrankungen dieser Organe werden die Areale und insbesondere diese Punkte reflektorisch übererregt und druckempfindlich. Außer diesem Reflexweg von den Eingeweiden zur Haut gibt es auch den umgekehrten von der Haut zu zugeordneten inneren Organen, und das macht man sich auch bei der Schmerzbehandlung solcher Erkrankungen zunutze.

Des Rätsels Lösung:

Löcher statt Punkten


Die anatomische Struktur der klassischen Akupunkturpunkte war bislang umstritten; häufig wurde sogar die Meinung vertreten, es gäbe überhaupt kein anatomisches Korrelat.

Die Suche konzentrierte sich auf punktförmige Endigungen von Hautnervenästen. Sie mußte so lange vergeblich bleiben, wie nicht nach dem Begriff des Punktes gefragt wurde – denn das, was in der westlichen Kultur als Punkt bezeichnet wird, bedeutet im alten Mandarin-Chinesisch Loch, Xue.

Diese Erkenntnis führte mich an der Universität Witten-Herdecke auf die richtige Spur. Zwischen Haut und Muskulatur ist die oberflächliche Körperfaszie (Fascia corporis superficialis) eingeschaltet, ein Bindegewebe, das im wesentlichen aus kollagenen Fasern besteht. Sie ist schon mit bloßem Auge erkennbar – regelrecht perforiert: Durch scharf umschriebene runde bis schlitzförmige Öffnungen von 2 bis 8 Millimetern Durchmesser tritt je ein Nerven-GefäßBündel, eingehüllt in lockereres, wasserreiches Bindegewebe (Bild 1). Daraus erklärt sich auch die seit längerem bekannte höhere elektrische Leitfähigkeit im Bereich eines Akupunkturpunktes gegenüber dessen Umgebung.

Allerdings lassen sich sehr viel mehr solche Perforationen mit durchtretendem Nerven-Gefäß-Bündel nachweisen, als es Akupunkturpunkte gibt. In der klassischen chinesischen Akupunktur, die auf mehr als 2000jähriger Erfahrung fußt, wurden 361 Punkte als therapeutisch besonders wertvoll ausgelesen – so viele, wie es Stufen zum Kaiserpalast gab. Etwa 310 davon entsprechen den beschriebenen Durchtrittsstellen; sie sind auf zwölf paarigen Hauptmeridianen (sogenannten Leitbahnen nach chinesischer Vorstellung) angeordnet, die selbst aber keine besondere anatomische Struktur erkennen lassen. (Die Ohr-Akupunktur sei hier zunächst ausgeklammert.)

Selbst dort, wo eine typische oberflächliche Körperfaszie fehlt – an der vorderen und hinteren Mittellinie des Körpers sowie im Gesichtsbereich und auf der Schädeldecke – hat sich das Prinzip perforierender Nerven-Gefäß-Bündel bestätigt.

An der vorderen beziehungsweise hinteren Mittellinie des Körpers entlang verlaufen der unpaare Ren-Mai und der Du-Mai-Meridian (wörtlich: Kontroll und Lenkergefäß-Meridian). Ihre Punkte werden – anders als alle anderen – von Nerven-Gefäß-Bündeln beider Körperseiten versorgt. Entlang der Mittellinie des Brustbeins bilden Endaufzweigungen der Zwischenrippennerven und -gefäße etwa drei Millimeter dicke, knäuelartige Komplexe, die in das Bindegewebe der Knochenhaut gehüllt sind und wiederum Akupunkturpunkten entsprechen (nur sie genügen der alten Vorstellung, an solchen Punkten müßten Ansammlungen von Endigungen liegen). Tiefer, an der hellen kollagenen Trennlinie zwischen der linken und rechten Bauchmuskulatur, stoßen an den Akupunkturpunkten feine senkrechte Kanäle durch, die ebenfalls jeweils ein von bei den Körperseiten gespeistes Nerven-Gefäß-Bündel enthalten. Ähnlich verhält es sich in der Mittellinie des Rückens, wo die Nerven-Gefäß-Bündel der Akupunkturpunkte des Du-Mai-Meridians die kollagenen Bandstrukturen zwischen den Dornfortsätzen der Wirbel perforieren.

Im Gesichtsbereich tritt jeweils ein Bündel aus Öffnungen der Knochen direkt in die Gesichtshaut über; und im Bereich des Hirnschädels ziehen feine Bündel von der harten Hirnhaut durch die beim Erwachsenen verknöcherten Schädelnähte in die Kopfhaut. Ähnliche "leitende" Verbindungen bestehen zudem über feine Nerven und Venen führende Kanäle direkt durch die Schädelknochen. Somit liegen sämtliche klassischen Punkte an ähnlich gearteten löchrigen Strukturen.

Die extrazelluläre Grundsubstanz


Derzeit gilt unser besonderes Interesse dem lockeren Bindegewebe an den klassischen Akupunkturpunkten, das zylinderartig das Nerven-Gefäß-Bündel umgibt. Es besteht im wesentlichen aus hochpolymeren Zuckern (Proteoglykanen und Glykosaminoglykanen) mit eingelagerten feinen Kollagenfasern. In dieser Extrazellulärmatrix sind alle Formen von Abwehrzellen zu finden.

Krankheiten, die wie die chronischen den ganzen Körper in Mitleidenschaft ziehen, verändern auch die Grundsubstanz und damit die Akupunkturpunkte. Es wäre möglich, daß die Schmerzen, wie sie beispielsweise bei den peripheren Neuropathien von Diabetikern und Alkoholikern oder gewissen Muskel- oder Muskelhauterkrankungen auftreten, auch auf einer Veränderung der Grundsubstanz in den Akupunkturpunkten beruhen, die den durchtretenden Nerv reizen könnte.

Andererseits wird beim Nadelstich, der wohlgemerkt nicht den Nerv selbst treffen darf, die negativ geladene extrazelluläre Matrix im Punktbereich kurzgeschlossen; sich fortpflanzende Ladungsveränderungen am Nerv sind die Folge. Vielleicht ist daran das bei richtig ausgeführter Akupunktur auftretende, schwer beschreibbare Qi-Gefühl ( gesprochen: Chi) gekoppelt, das als kräftigender, den Körper durchziehender Wärmestrom erlebt wird.

Ohrpunkte


Wie verhält es sich aber bei der Ohr-Akupunktur, die in Europa erst seit einigen Jahrzehnten angewendet wird? Ihr liegt die Erfahrung zugrunde, daß den diversen Organen und Körperregionen mehrere Quadratmillimeter große Projektionsfelder der Ohrhaut (überwiegend an der Innenfläche der Ohrmuschel) entsprechen.

Uns ist es kürzlich gelungen, auch das anatomische Korrelat dieser Punkte aufzuklären (eine ausführliche Publikation erscheint im September 1993 in der "Deutschen Zeitschrift für Akupunktur"). Wie die gewebliche Untersuchung ergab (das Material stammt aus dem hiesigen Anatomischen Institut), treten in einem Projektionsfeld mehrere punktartige Gebilde auf, die eine besondere Verquickung zwischen Kollagen und terminalen Nervenfasern aufweisen (Bild 2). In ihnen bilden die Kollagenfasern ein engmaschiges, eiförmiges Geflecht mit eingewobenen elastischen Fasern, durchsponnen von feinen, sich aufzweigenden Nervenendigungen sowie Arteriolen, Venolen und noch feineren Blutgefäßen (Kapillaren). Die Gebilde erreichen höchstens etwa ein zehntel Millimeter Durchmesser und sind gegen das umliegende Bindegewebe teilweise nur undeutlich abgegrenzt; das Kollagengeflecht selbst kann wieder von zahlreichen Abwehrzellen durchsetzt sein.

Derzeit werden 103 Akupunkturfelder am Ohr ausgewiesen; nach unseren Untersuchungen dürfte die Zahl der speziellen Kollagen-Punkte aber in die Tausende gehen. Das erklärt, warum am Ohr – im Gegensatz zur klassischen Akupunktur – nicht jeweils ein genau bestimmter Ort, sondern nur innerhalb des jeweiligen Feldes angestochen werden muß.

Die punktartigen Gebilde am Ohr ähneln den vielgestaltigen Sinneskörperchen in der Haut, nur ist bei ihnen Kollagen das wesentliche strukturierende Element. Dieses sozusagen innervierte Kollagen entspricht voll und ganz dem neuen Konzept von Kollagen als Biosensor, das Günter Regling und Hans-Ilja Rückmann von der Orthopädischen Klinik der Charité in Berlin entwickelt haben. Danach steht zu vermuten, daß die Akupunkturpunkte am Ohr außer Sinnesqualitäten von Oberflächenreizen auch solche der inneren Organe über vegetative Nervenfasern zu registrieren vermögen und diese Informationsmischung über ableitende sensible Nervenfasern an Gehirn und Rückenmark weitergeben, von wo aus dann die entsprechende Antwort an die Organe und Körperregionen weitergeht.

Mit dieser Aufklärung der Morphologie der Akupunkturpunkte ist – zusammen mit den Befunden aus Physiologie und Biochemie – die wichtigste Voraussetzung für die Lehrbarkeit der Akupunktur im westlichen Sinne erfüllt, nämlich Reproduzierbarkeit.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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