Direkt zum Inhalt

Anschub für die interdisziplinäre klinische Forschung

Das Bundeskabinett hat am 28. April das Programm „Gesundheitsforschung 2000“ verabschiedet. Gegenüber den seit 1978 geltenden Konzepten „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit“ fördert es vor allem neue Strukturen der Zusammenarbeit medizinischer Fachrichtungen – auch mit anderen Disziplinen.

Primum nil nocere: Den hippokratischen Grundsatz, in erster Linie nicht zu schaden, sollen die medizinischen Fakultäten in der Bundesrepublik jetzt endlich – mit Bundeshilfe – verstärkt zum Nutzen der Kranken ins Positive wenden. Inhaltliche Defizite und die Vernachlässigung bestimmter Gebiete der Gesundheitsforschung beruhen in der Regel auf strukturellen Problemen. Seit Jahren moniert der Wissenschaftsrat diese Schwächen besonders in gesundheitspolitisch relevanten Bereichen der interdisziplinären klinischen Forschung und der Gesundheitssystemforschung (Public Health). Das neue Regierungsprogramm geht dagegen jetzt gezielt vor. Die Bundesministerien für Forschung und Technologie (BMFT) sowie für Gesundheit (BMG) geben für disziplinübergreifende Initiativen finanzielle Anstöße.

Allerdings können diese nur dann erfolgreich sein, wenn auch die Länder und die Hochschulen mitziehen. Darauf wird jetzt energischer als in bisherigen Programmen gedrängt. In der klinischen Forschung wird dies besonders deutlich (siehe auch den folgenden Beitrag über Public Health und meinen Bericht über „Neue Ansätze in der Gesundheitsforschung“, Spektrum der Wissenschaft, August 1990, Seite 41).

Die biomedizinische Grundlagenforschung und die Anwendung ihrer Erkenntnisse am Patienten klaffen gegenwärtig weit auseinander. Nach der Definition des Wissenschaftsrates von 1986 soll aber klinische Forschung „in einem weiten Sinne alle Formen der Erforschung von Ursachen, Entstehung und Verlauf von Krankheiten sowie der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihrer Erkennung und Behandlung umfassen, die aus der ärztlichen Arbeit im Umgang mit kranken Menschen hervorgehen“.

Die Ursachen für das Defizit sind vielfältig. Wissenschaftssystematisch stehen zwei unterschiedliche Erkenntnisinteressen nebeneinander: die des auf Therapie orientierten Klinikers und die des Naturwissenschaftlers, der primär Erkenntnis gewinnen will. Beide zu verbinden stößt auf zahlreiche Hindernisse, die Gegenstand der im Regierungsprogramm angestrebten Reform sind.

Für seine im Auftrag des BMFT erarbeitete Studie zum Einfluß der Forschungsförderung auf Strukturprobleme der Gesundheitsforschung hat Dr. Dietmar Braun vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln zahlreiche Experten zu verschiedenen Themen befragt. Für die klinische Forschung kam er zu dem Schluß, „daß die Akteure in den praktischen, klinischen Disziplinen abwehrend auf die molekularbiologischen Methoden und Entdeckungen reagieren“; sie empfänden sie als Angriff auf die Einheit der medizinischen Disziplin. Ein Beispiel: Im Gegensatz zur Medizintechnik, die von vornherein Erleichterungen für die klinische Praxis versprach und in früheren Programmen besonders gefördert wurde, stehen der Integration der Immunologie in die klinische Forschung hohe Kommunikationsbarrieren entgegen.

Naturwissenschaftler, klinische und medizinisch-theoretische Forscher sollen deshalb nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrates in Forschungsschwerpunkten, Sonderforschungsbereichen und Klinikverbünden kooperieren, insbesondere aber in Gruppen innerhalb der Kliniken. Diese sollten sich an den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) entwickelten Modellen orientieren.

Das BMFT folgte dieser Empfehlung: Mit Sondermitteln für die DFG fördert es derzeit 18 klinische Forschergruppen (siehe Kasten) mit einem Gesamtbetrag von vorerst 121 Millionen Mark für den Zeitraum 1988 bis 1995. Insgesamt soll das Programm 25 bis 30 Gruppen umfassen. Der jeweilige Leiter muß sich bereits wissenschaftlich qualifiziert haben; er wird auf eine Forschungsprofessur berufen, die aus den Mitteln des Programms für die Dauer der Förderung finanziert wird. Die Gruppen sind thematisch nicht von vornherein festgelegt. In diesem Jahr wird der Wissenschaftsrat die vom BMFT geförderten Teams zum ersten Mal bewerten.

Das neue Programm „Gesundheitsforschung 2000“ sieht nun zusätzlich sechs bis acht interdisziplinäre Modellzentren für klinische Forschung in Hochschulkliniken vor. Sie sollen Modellstrategien dafür erarbeiten, wie die integrative Entwicklung von medizinischer Wissenschaft, Krankenversorgung und Lehre am besten inhaltlich und finanziell gestaltet werden könnte, und Beispiele für die Organisation der klinischen Forschung anbieten.

Auf Abteilungen konzentriert, die das Forschungsprofil der jeweiligen Hochschulklinik entscheidend prägen und in denen bereits wissenschaftliche Schwerpunkte sowie von Dritten finanzierte Projekte existieren, sollen die Zentren ein Netzwerk zwischen den verschiedenen einschlägigen Gruppen bilden. Ein externes Begutachtungssystem soll die Qualität ihrer Arbeit sichern, bei der auch die Finanzierung transparenter und die Kostenrechnung verbessert werden soll. Inhaltlich orientieren sie ihre Projekte an den gesundheitspolitischen Leitlinien des Programms: Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Infektionskrankheiten, Stoffwechselstörungen, Erkrankungen des Nervensystems und des Bewegungsapparates.

Das Regierungspapier betont, ein Zentrum könne nur auf der Basis einer kritischen Masse an Forscherkapazität und der erheblichen Eigenleistung von Universität und Sitzland aufgebaut werden. Das BMFT sieht zunächst rund 250 Millionen Mark für die nächsten acht Jahre vor. Es mahnt aber: „Wesentliche Voraussetzung ist der gemeinsame Gestaltungswille in einer Hochschule, neue und zeitgemäße Strukturen für die klinische Forschung aufzubauen und damit in einem abgegrenzten Bereich, der sich bereits durch gut etablierte Forschung auszeichnet, zu beginnen.“


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – Neurodiversität – Vielfalt im Gehirn

Wenn die Hirnverdrahtung einer Person deutlich anders ist als die der Mehrheit, ist sie deshalb gleich »krank«? Das Konzept der Neurodiversität widerspricht dem – und versteht Autismus, ADHS und andere Abweichungen vom Durchschnitt als natürliche Variationen im Denken und Erleben.

Spektrum der Wissenschaft – Bioethik: Bioethik

Bioethik: Forscherdrang auf Abwegen - Pharmaforschung: Gekauft von der Industrie? • Grüne Gentechnik: Zwischen Fortschritt und Frevel • Tierschutz: Streit um Menschenrechte für Menschenaffen

Gehirn&Geist – Die neuen seelischen Leiden: Die neuen seelischen Leiden

Droge Computerspiel: Sucht nach virtueller Anerkennung • Messie-Syndrom: Warum manche Menschen nichts wegwerfen können • Medienopfer: Vorgeführt und bloßgestellt • Tiefe Hirnstimulation: Strom lindert Depressionen • Sanfte Psychiatrie: Gewaltfrei gegen Psychosen

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.